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27 Und da wußte er es: der alte Mann gab Claudine das, was er oder ein anderer junger Mensch ihr niemals geben konnte: das Gefühl, ein Kind zu sein. Ein kleines Kind. Jede Frau will ein Kind sein, jede Frau will es bleiben. Und jede Frau sucht in der Liebe immer, immer wieder den Vater. Den Vater, der sie tyrannisiert und beschützt, gegen den sie sich auflehnt und zu dem sie aufblickt, über den sie lächelt und den sie dennoch bewundern muß. Der sie bevatert bei den größten Angelegen heiten wie bei den nichtigsten Anlässen. Wie er ihr den Schal um die Schulter legte ... Was kann ein junger Mann sein? Er kann bestenfalls ein Gefährte sein, häufiger ein Spielkamerad, ein Spielzeug oder ein dummer Junge, der sie als Spielzeug be trachtet. Sie kann ihn lieb haben, bewundern, sie kann mit ihm streiten, sie kann sich, manchmal, vielleicht auch auf ihn verlassen. Und er kann sie lieb haben. Heftiger, stürmischer, leidenschaftlicher vielleicht als der Alte. Aber er kann nicht, kann niemals einen Schal so um ihre Schultern legen, wie der alte Mann es eben getan hatte. Gaston, der lächelnd und siegesbewußt den Kampf mit jedem Jüngeren, mit jedem Gleichaltrigen aufgenommen hätte, wußte, daß er da niemals kämpfen konnte. Denn das, was jener gab, konnte er nicht geben; das, wonach jede Frau sich sehnt: das Bewußtsein, nein, die Illusion, letztes, schönstes, endgültiges Erleben zu sein. Denn auch das kann nur ein alter Mann. Gaston stand auf. Er ging, weniger leicht als sonst, an den beiden vorbei, die fröh lich einander gegenübersaßen und sich in die Augen blickten. Der Schal war von Claudines Schultern geglitten, und der alte Mann beugte sich eben über ihre Hand und küßte sie. Claudines Augen ruhten auf seinem grauen Haar, und Claudine lächelte; sehr glücklich lächelte sie. Gaston grüßte sehr tief. Die beiden dankten ihm nicht. Sie hatten ihn nicht gesehen. Denn der alte Mann sah nur ihre kleine, zärtliche Hand und die junge Frau sein müdes, geliebtes Haar ... (Aus dem Französischen von Robert An^on) Phot. Sobol Die englische Diseuse Maria Cambarelli und ihre Girltruppe