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0 II. GERHART POHL Z DER MUSIKANT D Die Redaktion forderte mich auf, über mein erstes Liebes-Erlebnis zu schreiben. Als ich ihren ^ Brief gelesen hatte, war mir klar, daß ich ablehnen würde. Später fiel mir eine Geschichte aus meinem „Tagebuch merkwürdiger Verführungen“ ein, die frühes Liebe-Erleben gestaltet. Ich schrieb der Redaktion, diese Geschichte stände zur Verfügung. Ehe ich Antwort erhielt, kam ein altes, schon angegilbtes Blatt in meine Hand, und ich las eine Skizze, die mein erster Erzähl- \ ersuch war. Und was wird es wohl einen jungen Menschen, der in einer Bürger-Familie wohl- behütet aufwuchs, vorerst zu gestalten drängen ? Sein erstes Liebe-Erleben. Kaum achtzehn jährig schrieb ich diese Musikanten-Geschichte, die 1921 mein Literatur-Debut werden sollte. J Inzwischen habe ich soviel erlebt, gesehen und verstanden, bin aus einer Retorten-Welt (denn nichts anderes schafft unsere bürgerliche Erziehung) in diese Welt der Barbarei und der Not, der Ul Macht und der Rechtlosigkeit getreten, daß meine Privat-Schmerzen mich künstlerisch nicht mehr interessieren können. Größer ist, was täglich Millionen angeht, der Werktätig-Virkenden ^ Leid und Glück, Not und Hoffnung und dieser zähe Kampf einer aufsteigenden Klasse um ihr elementares Recht. Das zu schildern ist mir zur Aufgabe geworden. Denn ich bin der Ansicht, wer wirken will, muß kämpfen, klar das Ziel vor Augen. Und unernsthaft, also dilettantisch, wer als Bfc Schriftsteller nicht wirken will. Wenn ich meine erste Skizze noch einmal drucken lasse im Rahmen dieses Heftes, so leitet Q mich das Gefühl, daß dieser Gestaltungsversuch eines jungen Bürger-Menschen der erste zag hafte Schlag gegen Tore war, die später Erkenntnis und Wille sprengten. > Berlin, März 1927 GerhartPohl Er war geboren'worden in einem Haus, das nur eine Liebe hatte, verwurzelt in jahrhunderte langer Tradition: Musik. Die Milch aus feinlinigen Brüsten seiner Mutter gab ihm: die Sehnsucht. Der tiefe Blick seiner Vaters, der in den Kern aller Dinge vorstieß: die Melodie. Er ging in eine Volksschule. Sollte Buchstaben lernen und Geschichten vom lieben Gott. Lang weilig war es. Denn er dachte an den Flügel, dem er unbeholfen die ersten Töne entlocken konnte. Als Primaner von Tanzstunden, Abenteuern und fabelhaften Frauen schwärmten, war er still. Nur ein weltfernes Lächeln durchglomm seine Seele. Denn er hatte die Brücke zu diesen Endlich keiten abgebrochen. Sie waren nie fest fundiert gewesen. Jetzt gab es nur noch eine Geliebte und ein Abenteuer: Musik. Er spielte seine Sehnsucht in den golddurchwirkten Abendhimmel. Wenn Frühlingsstürme den Witwenschleier von der Erde Antlitz rissen und das geheimnisvolle Leuchten aus der unendlichen Fülle brach, jauchzten seine Akkorde ihre Melodie. Und schrieen Klagen in Novembernächte, wenn dürre Baumfinger in einem toten Himmel die Klagen ihrer Verlassenheit fluchten. Er bestand die Abschlußprüfung. Ohne Glanz. Doch auch ohne Schwanken. Wie im Traume. * e Tage später erst wußte er die Bedeutung. Und die Töne flackten in den Blütenschnee eines Maienmorgens wie glänzende Fackeln einer Weltauferstehung: Musik. Ganz Musik jetzt. Fr ward als Student eingetragen von geschäftigen Schreiberseelen. Also studierte er, weil das , Ste Sdwm war. Oder weil es das Übliche nach Ablauf neun öder, verregneter Jugendjahrc. ie eic tauch, tim frei zu sein. Um aus der Fülle seiner Seele zu schöpfen: Sehnsucht und Melodie: Musik. Er liebte die Bauten, die ihre Fanfaren über die Erde schmetterten, um Millionen in ihre Arme tt 1 kA 611 '-!. ^ J var und ungebändigt. Sie schrie, steil, in den Himmel und kannte nur , n ..f m £ t 5 . lt- or “ er hatte er jene Ehrfurcht, die enge Philisterseelen beim Anblick eines berühmten Künstlers befällt: unerreicht und doch greifbar nahe. Die Gotik wand sich in die Maß losigkeit einer überirdischen Askese. Die liebte er nicht. Seine Erfüllung hieß: Barock. Im Anblick es Würzburger Schlosses schlug eine Symphonie in ihm zusammen wie Wellen eines aufgewühlten eeres, das nach Glätte ruft. Und so jeder Barockbau. Überall erklang Musik aus ihm. Er reiste in