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DICHTER I j! I ERZÄHLEN ÜBER I | | I IHRE ERSTE LIEBE I I S I I. RUDOLF VON DELIUS Mein erstes Liebeserlebnis hatte ich sehr früh, ich war fünf Jahre alt und besuchte den Kinder garten. Es sind aber nicht die Erinnerungen an irgend ein zartes, leises, scheues Idyll, der Dämon Liebe überfiel mich plötzlich, wild und tyrannisch, was seltsam ist, da fiir die Gewalt dieses An sturms die physiologischen Vorbedingungen doch noch nicht gegeben waren. Und ich liebte zwei kleine Mädchen des Kindergartens gleichzeitig, sie stehen mir heute noch beide als ebenbürtig im Gedächtnis, von den Einzelheiten der Geschichte ist freilich das meiste verblaßt: nur zwei Bilder sind farbig und fest im Schachte des Innern geblieben, zwei Bilder, die herausgelöst wurden aus dem Zusammenhang und in denen die Heftigkeit jener Liebe wohl gipfelte. Das erste Bild: ein großer runder Tisch, das Mädchen liegt auf dem Tische und ich stürze mich über sie. Die umstehenden Erwachsenen lachen. Ich sehe auch noch ihren Gesichtsausdruck, ein ziemlich nichtssagendes, nettes, spielerisches Kindergesicht, keine Spur von Empfindung in ihm. Ich aber muß durch meine Glut komisch gewirkt haben, noch heute fühle ich die Erwachsenen rings herum, die sich sehr amüsierten. Auch weiß ich noch, sie war die Tochter eines Hutmachers, das Haus und der Platz, an dem es lag, sind mir noch wohlbekannt. Das zweite Bild: ich gehe mit meinem Vater die Hauptstraße der Stadt entlang, auf einmal fragt er mich, neigt sich herab: „Wie heißt sie denn ?“ Er hatte mich wohl schon öfter gefragt. Wir standen vor einem Glasladen, ich zögere etwas, breche in Schluchzen aus und nenne dann den Namen, aber durch das Weinen hindurch so undeutlich, daß mein Vater einen ganz falschen Namen versteht, der ihm so merkwürdig vorkommt, daß er lacht. Ich bin dann trotzig und nicht dahin zu bringen, den Namen zu wiederholen. Später wird im Familienkreise der verfälschte Name berichtet, was mir abermals wehe tut. Aus der Geschichte jedes Mädchens hat sich also ein Bild erhalten, nur ein Bild, alles Übrige ist gänzlich gelöscht. Diese zwei Bilder aber haben etwas Gemeinsames und dies Gemeinsame muß daher wohl den Kern des Erlebnisses enthalten: beidemal jähe Heftigkeit der Leidenschaft, die sich ganz vergißt oder in Erinnerung an die Geliebte in Schluchzen ausbricht. Und dann beidemal Lachen der anderen, wodurch das Gefühl der völligen Einsamkeit entsteht. So weit ich zurück denken kann, waren irgendwelche Wünsche und Sehnsüchte mit dieser Liebe nicht verbunden, es war reine Erschütterung, die das Herz erfaßte, lange vor jeder Reflexion und auch vor jeder körperlichen Erregung. So habe ich nicht das Gefühl, daß ich beim ersten Bild die Freundin küssen wollte, es zog mich nur etwas, so daß ich mich über sie stürzte. Bei dem zweiten Erlebnis ist die äußere Erscheinung ganz verloren gegangen, nur das Schluchzen beim Nennen ihres Namens blieb, aber auch die erste Geliebte sehe ich nur noch in der einen Situation, wie sie spielerisch sich auf dem Tische herumwälzt.