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anderes Lebensgefühl, neue Interessensphären verur sacht oft eine zweite Sturm- und Drang periode, die bisweilen mit der gleichen Intensität wie die erste der Pubertät erlebt und nicht selten von ebenso heftigen Stürmen der Leidenschaft begleitet wird. Der etwas lächerlich an mutende „Johannis trieb" gleicht zwar dem holden Wahnsinn echter Liebe, aber seine Flamme wird nicht vom Herzen der Jugend genährt, sondern sie lebt von einer Illusion — und der „Schwerenöter“ bereitet sich und anderen genug „schwere Not!“ Ein älterer Mann, dessen Antlitz vom Leben durchfurcht war, verliebte sich plötz lich in ein blutjunges Mädchen. Sie blieb uninteressiert, er aber litt Höllenqualen unter dieser Liebe, die ganz der romantischen Schwärmerei eines Primaners glich. Er ver nachlässigte alles, sprach nur von ihr, und gewöhnlich nicht ohne Tränen. Wie soll sich der seelische Berater hier verhalten!? — Eine Radikalkur hilft oft besser als „gutes Zureden”. Ich machte ihm unumwunden klar, daß sein angebetetes Mädchen ihn ein fach auslache, daß er sich mit diesem für sein Alter ungebührlichen Benehmen jede Achtung verscherze. Das traf! Er brach nun gänzlich zusammen — doch aus diesem tief sten Schmerz keimte schon die heilende Ein sicht, die ihn bald zur alten Harmonie zurückführte. Auch in der Ehe bricht bisweilen eine solche „verspätete Liebesblüte" aus dem welken Stamm hervor. Ein mir bekanntes Ehepaar war ungefähr zehn Jahre verhei ratet. Aus dem Rausch war eine stille Freundschaft geworden, nicht ohne Müdigkeit, Gewohnheiten und Resignation. Da mußte der Mann auf längere Zeit verreisen. Und in der Entfernung, herausgerissen aus dem stumpfen Gleichklang der Tage, keimte in ihm ein frischer Frühling. Er schrieb seiner Frau glühende Liebesbriefe, brennende Gedichte, und sie beantwortete alles im gleichen Stil — wie vor zehn Jahren. Beide erleb ten einen Monat verzehren der Liebessehnsucht. — Er kam wieder heim. Und in der Wirklichkeit zerrann alle Poesie. Sie saßen sich wieder gegenüber — still und gleichgültig. Es war ein kurzer Traum: ein Früh lingstraum im Herbst. Der Schweizer Psychologe Jung hat sich mit feinem Verständnis dieser „Altersneurosen“ angenommen. Es klingt zwar bitter, wenn er sagt, daß sich die Zeiger der Lebens uhr nicht mehr zurückdrehen lassen, denn „was die Jugend außen fand und fin den mußte, soll der Mensch des Nachmit tags innen finden“. Das Alter, dessen Sinn auf die Kultur gerichtet ist, hat seine heilige Bestimmung im Weltgeschehen wie die Jugend, die der Natur, den Sinnen und der Fortpflanzung dienen soll. Wer sich zu einem neuen Lebensausdruck an jener be deutsamen Schwelle durchringt, wird leich ten Gemütes von dem Glanze einer heiteren Landschaft Abschied nehmen, um mit dem Bau seiner inneren Gestaltung zu beginnen. Wer sich aber vom lockenden Spiel der Sinne nicht trennen mag, fühlt plötz'ich eine erdrücken de Einsamkeit, und dieser Lei densweg see lischer Leere und Verzweif lung mündet in eine,,Neurose“. Das Ich verliert seine Geschlos senheit: „man zerfällt mit sich“. In dem zwanghaften Verlustschmerz ringt die Seele in Depressio nen, Melancho- 411