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hervor. Da ist es nun die dankbare Rolle des Psychographologen, „vorauszuschauen" oder, mit anderen Worten: das Gefährliche und Ehebedrohende der Charakterschwächen festzustellen, bevor sie in Erscheinung ge treten sind. Es ist nicht immer angenehm, einem harmlos verliebten Paar zu sagen: „Geht lieber in Freundschaft wieder ausein ander!“ Aber es muß oft sein. Einige wahre Erlebnisse sollen hier zeigen, wie nötig eine solche Warnung ist und welche Dinge eintreten, wenn sie nicht gehört wird: Vor einigen Jahren suchte mich in Wien ein Rechtsanwalt auf. Er erzählte mir, daß einer seiner Klienten eine sehr schöne Dame zu ehelichen beabsichtige, doch aus irgend welchen, ihm unerfindlichen Gründen vor dem letzten entscheidenden Schritt zurück schrecke. Ich ließ dem Mann sagen, er möge zu mir kommen und mir die Schrift seiner Braut mitbringen. Als ich die Handschrift (aus ein paar Unterschriftsschnörkeln zu sammengestellt) zu Gesicht bekommen hatte, sprangen mir folgende Eigentümlichkeiten ins Auge: In diesen Schriftzügen erscheint die (einem „j“ oder „y“ ähnliche) Schlinge vollkommen geschlossen, obgleich dahinter ein Punkt steht. Dabei ist kein Schnörkel dem anderen gleich. (Unberechenbarkeit!) Der Auslauf des letzten Endschnörkels (d) ist, im Gegen satz zu den sonstigen, nicht spitz geschlossen, sondern gerollt, hingeworfen (lügenhafte Ausrede.) Die Schlinge der letzten Unter schrift (d) —- einem Schreiben entnommen, worin die Frau dem Industriellen mitteilt, sie könne krankheitshalber eine vereinbarte Zusammenkunft nicht einhalten — ist beson ders charakteristisch: Einmal erscheint der Auslauf des Endschnörkels, im Gegensatz zu den sonstigen, nicht spitz geschlossen, son dern gerollt hingeworfen — Symptom lügen hafter Ausrede; außerdem aber hat die Schlinge noch einen Fortsatz, der einem An klammern gleicht. Der sonst immer hinge setzte, diesmal aber fehlende Punkt verrät die innere Fassungslosigkeit. (Die Frau hatte nämlich die Wahrnehmung gemacht, daß der Mann in seinem Ehevorsatz unsicher geworden war; die Krankheit war bloß vor gespiegelt — sie wollte ihn in Unruhe ver setzen, um ihn wieder in ihren Bann zu be kommen.) Nach genauer weiterer Betrachtung der Schriftprobe kam ich zu folgendem Schluß, den ich dem Industriellen nicht vorenthielt: „Die Frau ist eine Bestie, die kalt ihr Ziel anstrebt. Alle schlechten Eigenschaf ten (Eigennutz in erster Linie) haben sich in einem besonders schönen Körper ver ewigt. Die Frau kann kalten Blutes an dere Menschen zugrunde richten. Ihre Sexualität ist stark entwickelt, dabei un echt. Bei einer Verbindung mit ihr ge schieht ein Unglück. Entweder bringt der Mann sie um oder sie ihn, eventuell auch nachher sich selbst.“ Der Mann ließ von der Frau ab. Etwa eineinhalb Jahre später erhielt ich von dem Rechtsanwalt ein Schreiben, worin er mir für mein Gutachten tiefen Dank aussprach. Die Frau, deren Schrift ich in so ungünstiger Art beurteilen mußte,, hatte, als sie vom In dustriellen verlassen wurde, mit einem an deren Mann eine Beziehung angeknüpft; von dem wurde sie eines Tages in einem Eifer suchtsanfall auf offener Straße niederge knallt. Der Mörder wurde von den Wiener Geschworenen freigesprochen. Ein anderer Fall: Wird die Frau, die die Worte „ich liebe diesen Mann“ geschrieben hat, glücklich werden, wenn sie den Herrn heiratet, von dem die Worte „ich komme soeben vom Dienst“ stammen? Die äußeren Verhältnisse, die Überzeugung der betreffenden Familien und der feste Glaube der beiden Personen selbst lassen 363