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Sonderaufnahme für „Scherls Magazin” oder dem anderen bloß unerträglichen Eigen schaften vor, die mit dem Anfang des Zu sammenlebens zugleich dessen Ende ent halten. Man wird es kaum glauben, wenn ich aus meiner psychographologischen Er fahrung den Fall erzähle: daß eines Tages ein junguerheirateter Ehe gatte zu mir mit der Klage gelaufen kam, er könne die Gewohnheit seiner Frau, nach einer Mahlzeit die Zähne zu bearbeiten, so wenig ertragen, daß er darüber fast wahn sinnig werde; er spüre aus dieser und man cher anderen (geringfügigen) Unart seiner Gattin das baldige Ende der Ehe vorher. Das Paar wurde dann tatsächlich vier Jahre nachher geschieden. Aber den Scheidungs grund bildete jetzt ein „vorgebautes“ Motiv, Eifersucht oder dergleichen — die rein physische Unmöglichkeit des Zusammen lebens war als wirkliches Motiv beiden nicht mehr deutlich. Aus diesem einen Beispiel ist zu ersehen, daß es für Paare, die eine Ehe miteinander einzugehen gedenken, eine Art , .psy chische Eheberatungsstelle“ ge ben müßte. Es ist auch durchaus logisch. Wenn in der heutigen Zeit Brautleute, bevor sie den entscheidenden, so oft unwiderruf lichen Schritt wagen, ihren Körper einen Arzt auf Ehetauglichkeit hin untersuchen lassen — warum sollten sie nicht eine gleiche Vorsorge ihren Seelen widmen? Die Frage entsteht nun: Wer ist der objek tive, unter die Oberfläche der Dinge schau ende Mensch, dem diese Rolle eines „psychi schen Ehesachverständigen“ gebührt? . . . Diese Frage wird jeder berufsmäßige Er forscher der Seele für sich beantworten. Der Dichter wird sagen: „Nur ich kann es sein — nur ich als Künstler habe den wahren Tiefblick!" Der Psychoanalytiker: „Nein, ich bin es — meinem Reich gehört das Unbewußte an, das Unterbewußte und das Überbewußte.“ Der Graphologe: „Nein, nur ich kenne mich hier aus — die Schriftzeichen enthüllen mir automatisch das seelische Bild eines Menschen.“ Vielleicht darf in den Wettstreit noch ein vierter eintreten: der Psychographo- 1 o g e. Er ist, wie sein Name sagt, ein Bruder des Graphologen, aber auch des Psycho logen. Er kennt das Schema und die Ta- bellatur der charakteristischen Schriftzüge — aber er macht von diesen Handbehelfen nur insoweit Gebrauch, als sie seine natürliche Intuition (die ihn sofort das Grundbild eines Menschen erkennen läßt) bestätigen. Er ver fügt, neben den landläufigen Kenntnissen der Graphologie, über zwei kostbare Helfer: Auge und Erfahrung. Unzählige Fälle könnten dem Leser dar tun, wie sehr sich Ehetauglichkeit oder -untauglichkeit zweier Men schen in die Handschrift graviert. Das Interessante ist dabei, daß dem Auge des Psychographologen sogleich in der Hand schrift eben jene, von mir oben als „dauernd" bezeichneten Eigenschaften deut lich werden, die die Liebe so oft übersieht oder überhaupt nicht zu sehen vermag. In jeder Schrift ist ja sozusagen ein Wettlauf zwischen gegenwärtigen Empfindungen und immerwährenden Eigenschaften zu sehen; je nach dem Stande dieses Wettlaufs ist die augenblickliche Situation eines Menschen katastrophal und krisenhaft oder glücklich. Bei Ehepartnern ist es nun so: Vor der Eheschließung oder im Anfang des ehelichen Zusammenlebens tritt das Charaktermäßige hinter dem Gefühlsmäßigen zurück; die bösen, unverträglichen Eigenschaften und Leidenschaften der beiden Teile sind zu sehen — aber sie sind nicht „aktiv“; später, und in dem Maße, wie das Gefühl unaktiver wird, springen die Charaktertendenzen kraß 362