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43 ID i an e von /VI ontm&rtre Novelle von Gerde Griffith Die Verkehrsreglung wird in Paris nicht beachtet; dennoch gelingt es den kleinen Blechbüchsentaxis, haarscharf aneinander vorüberzugleiten, ohne sich auch nur den Lack zu bekrählen. Es macht dem Pariser durchaus nichts, wegen Ruhestörung arretiert zu werden, und wenn sich beim Nachmittagsaperitiv die Lippen zweier Menschen verschiedenen Geschlechts über den Tisch hinweg berühren, so verursacht das höchstens bei den Vorübergehenden ein Lächeln. Martin Stone war ein New Yorker Kaufmann. Er betrieb daher auch das Vergnügen geschäftsmäßig. Hätte man ihn, anläßlich seiner Geburt, zu Rate gezogen, so hätte er sein Geborenwerden auch vom geschäftlichen Standpunkt betrachtet. Leben war Geschäft. Heiraten war Geschäft — nicht ein Handel, o nein — aber alles mußte bestimmten Anforderungen genügen, so wie die Modelle in seinem todschicken Mode geschäft genau den Größen 42 und 44 entsprachen. Er machte es sich zum Geschäft, sein Vergnügen in Paris zu suchen. Er schmeichelte sich, in die Sitten der Stadt der lockenden Nächte vollkommen eingeweiht zu sein. Seinen Freunden konnte er alle Lokale, die man ohne seine Frau besucht, aufzählen. „Das liebe, alte Paris“, sagte er mit Gönnermiene, als sei er bei deren Geburt der hilfebringende Arzt gewesen. Amerikaner, die sich von Fremden ausbeuten lassen, schätzte er nicht. Er wußte genau, welches Trinkgeld jeder Leistung entsprach — vom Gepäckträger bis zum Zimmerkellner. Keiner erhielt auch.nur einen „Sou“ darüber. Oft war er vom Taxi zur Hoteltür mit drohender Faust und Flüchen begleitet worden. Das störte ihn weiter nicht. Mit Gütern dieser Welt gesegnet zu sein, war noch immer kein Grund, sich schröpfen zu lassen. Als ihm Jim Gallagher aus Chikago anvertraute, daß er ein Cafe im verborgensten Montmartre entdeckt hätte, zog Stone die Augenbrauen hoch. „Nicht so ein alltägliches Kabarett wie I’Abbaye und die anderen auf den Boule vards“, schwärmte Gallagher. „Nein, versteckt in einer Nebengasse mit dem Eingang um die Ecke.“ 8 s 5 Stone lächelte nachsichtig. Jedesmal, wenn Gallagher nach Paris kam, war er von neuem begeistert. „So was Ungewöhnliches hast du überhaupt noch nicht gesehen. Nicht klein und luftlos. Keine Tanzfläche, keine Überfüllung. Die Besucher sind ... apart. Stone wartete ruhig ab. Natürlich kannte er das Lokal — alle kannte er. „Niemand kümmert sich dort um einen“, fuhr Gallagher fort, „schon beim Eintreten ahnt man, daß etwas passieren wird.“ „Wie heißt denn das Ding?“ fragte Stone überlegen. „Le coin—der Winkel“, übersetzte Gallagher herablassend. „Hab’ nie was davon gehört. Wird wohl nicht weit her sein.“ „Warte nur ab. Ich führe dich hin.“ Stone zögerte. Doch gäbe es in Paris einen Winkel, den er nicht kannte, so könnte das seinem kosmopolitischen Ruf schaden. Sie holten Al Burbeck aus Philadelphia in einer Taxi aus dem Meurice ab. Auf Um wegen gelangten sie zu dem berühmten, hügeligen Stadtviertel, das von dem verkehrs reichen Boulevard zu der Stelle aufsteigt, wo die Kirche Sacre Coeur auf die Stadt der Nächte herabblickt. .. der hellen Nächte, der Nächte der unruhigen, nicht der sanften