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REINHARDTS MADONNEN Als das „Mirakel“ vor bald zwanzig Jahren zum erstenmal über alle Bühnen ging, stellte MARIA CARMI, die damalige Frau des Dichters Carl Vollmöller, die Madonna dar. Ihr Auftreten war eine Sensation, denn es geschah zum erstenmal, daß eine Dilettantin, im Rahmen routinierter Schauspieler mitwirkend, durch ihr mimisches Spiel und ihre bildhafteiSchönheit einen riesigen Erfolg erzielte, so daß sich der Rollenbegriff dieser Madonna im „Mirakel“ mit dem Namen Maria Carmis für immer verband. Es ist nun interessant, daß alle Nachfolgerinnen der Italienerin gleichfalls Dilettantinnen waren. 1924 bereitete der amerikanische Theaterunternehmer Morris Gest die „Mirakel“-Premiere in New York vor. Gleichsam der klassischen Tradition folgend wurde Maria Carmi, die sich inzwischen mit einem römischen Fürsten verheiratet hatte, als Madonna berufen, und sie sollte in dieser Rolle mit einer interessanten Engländerin alternieren, mit Lady DIANA MANNERS, einer Tochter des verarmten Herzogs von Ruthland, die mit dem englischen Kapitän Duff Cooper verheiratet war und infolge ihrer mädchenhaften Schön heit zu den umworbensten Frauen der Londoner Gesellschaft gehörte. In der Wahl zwischen Familienrücksicht, die den Weg zur Bühne für eine englische Hocharistokratin nicht passend fand, und riesigen Honoraren, die sie in die Lage versetzten, ihrer Familie zu helfen, entschied sich Lady Diana für die letzteren und unterschrieb den Vertrag, der ihr eine irrsinnig hohe Dollargage versprach. Noch vor der Premiere kam es zu einem Streit zwischen den beiden Primadonnen, der, wie es in Amerika üblich ist, seinen Weg in die Oeffentlichkeit nahm und ein von allen Zeitungen aufgegriffenes Thema mit sensa tionellen Ueberschriften und täglich neuen Einzelheiten wurde. Wer sollte in der Premiere die Madonna spielen: Maria Carmi oder Lady Diana Manners? Die Antwort auf diese Frage schien viel interessanter als die von Professor Max Reinhardt vorbereitete Premiere. Die Gunst des Publikums entschied sich zu gleichen Teilen für beide Widersacherinnen. Die Engländerin triumphierte, ihr Bühnendebüt fand in der ersten „Mirakel“-Aufführung statt, während Maria Carmi erst in der zweiten Vorstellung vor dem amerikanischen Publi kum erschien. Die Italienerin war gekränkt, strengte wegen Schädigung ihres künstlerischen Rufes einen Monsterprozeß in Millionenhöhe gegen Morris Gest an. Als Max Reinhardt 1924 die Ueberfahrt zur „Mirakel“-Premiere nach Amerika antrat, sagte ihm die als Nonne in Aussicht genommene Schauspielerin im letzten Augenblick ab. Die Schiffskarten waren gelöst, es war keine Zeit mehr, die Dispositionen zu ändern. Was tun? Reinhardt mag sehr mißgelaunt gewesen sein, als ihm auf dem Schilf ein reizendes Sportgirl auffiel, das graziös und scharmant herumtollte, tanzte und mit siebzehnjähriger Naivität flirtete. Reinhardt beobachtete das Mädchen einige Tage lang, erkundigte sich nach ihrem Namen. Es war ROSAMONDE PINCHOT, die Nichte des Gouverneurs von Pennsylvanien. Durch eine Mittelsperson ließ er sich der Mutter, die ihre Tochter be gleitete, vorstellen und sagte der überraschten Frau, daß er ihre Tochter hochtalentiert für die Bühne fände und er ihr gern die Rolle der Nonne in der „Mirakel“-Premiere anver trauen möchte. Noch auf dem Schiff wurden einige Proben arrangiert, und bei der Landung in New York war es eine so gut wie beschlossene Sache, daß die blutjunge Dilettantin Rosamonde Pinchot als Nonne beim Reinhardt-Gastspiel debütieren werde. Die seit drei Jahren laufenden Serienaufführungen von „Mirakel“ in Amerika machten es natürlich notwendig, daß mehrere Darstellerinnen der Madonna zur Verfügung waren, und es ist bezeichnend, daß es immer wieder Dilettant nnen waren, die vorher nichts mit der Bühne zu tun hatten, und die von irgendeinem Zufall zu der Rolle, die nicht nur eine übernatürliche Schönheit, sondern auch die Entfaltung aller mimischen Talente verlangt, berufen wurden. Als nächste wurde IRIS BEERBOOM-TREE, eine Tochter des größten englischen Schauspielers, Sir Ernest Beerboom-Tree, der sich mit seiner Kunst sogar den