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988 Frauen kreischten entsetzt auf, Männer liefen neben das sich am Leichenwagen festklammernde Mädchen einher. An der Ecke des Boulevard Carabacel, vor dem Pont Barla, löste Lucile ihre Hände von dem Wagen und schlug hart mit Händen und Stirne auf das Straßenpflaster. Das Vorhängeschloß, welches unweit von ihr, mit offenem Bügel, auf den Straßenbahnschienen lag, schien zerbrochen. Die Eisen stange an der Hinterwand des Wagens fiel von dem Verschlußbehälter, die Türen flogen auf, und im schwarzen Innern des Leichenwagens hüpfte die helle Kiste mit dem gerichteten Pierre Picard der Oeffnung zu. Die Schreie der Menschen und ein vor der Brücke postierter Polizist brachten den Wagen zum Stehen. Schnell war die Tür geschlossen. Die Menge umstand Lucile. Eine Frau war zu der Ohnmächtigen niedergekniet und hatte den Körper in Rückenlage gebracht. Das Mädchen schlug die Augen auf, sah ver stört auf die neugierigen Gaffer. Sie riß sich los, schlug nach den Umstehenden, die unwill kürlich zurückwichen, und begann aufs neue schreiend die Schienen entlang zu laufen. Der Polizist erreichte Lucile mit einigen Sprüngen, umfaßte sie mit beiden Armen und schleppte die sich heftig Wehrende in das Hospital de la Croix in der Rue de la Republique. „Pierre, mon pauvre Pierre.“ Wimmernd kamen die Worte von Luciles bebenden Lippen. „Doktor, man hat einen Unschuldigen gerichtet. Pierre Picard war unschul dig, der Mörder ist ein anderer, ein anderer, ein anderer! Draußen muß er herumlaufen, er hat sich die Hinrichtung Pierres mit mir angesehen!“ Eine beruhigende Injektion ließ des Mädchens Gemurmel bald verstummen. Sie saß auf dem Stuhl im Empfangsraum, zwei fromme Schwestern stützten die Aermste. — — — — * ' Am Place du Palais, in der Prefecture lasen die Beamten Wort für Wort des Geständnisses von Lucile Marchands Lippen. „Pierre und ich sind Waisen, wir wurden in Maillan, unweit Tarascon, zu geizigen Bauern in Pflege gegeben. Die Vormundschaftsbehörde kümmerte sich nicht um uns.dieZieheltern hielten uns zu schwerer Arbeit an, zu essen gab es auf dem reichen Bauernhof nichts. Pierre stahl für mich Butter, Brot, Eier, Obst und was er sonst noch Eßbares zu fassen bekam. Oftmals wurde er erwischt, erhielt schreckliche Schläge und wurde über Nacht in den Holzschuppen gesperrt. Ich kroch dann zu ihm und tröstete ihn.“ Lucile schwieg und sah von dem Kommissar auf den Protokollführer und die Polizisten. „Noch nicht jieun Jahre alt, wurde ich von dem Pflegevater vergewaltigt, diei Knechte und der Sohn des Hauses mißbrauchten mich Jahre hindurch. Mit dem Tode wurde ich bedroht, falls ich die Schandtat verriet.“ Nervös wiegte das Mädchen den Kopf, nahm einen Schluck „Rose“ aus dem vor ihr stehenden Glas, atmete tief auf und sprach leise weiter: „Pierre blieb es kein Geheimnis, was die anderen an mir verbrachen. Er holte eines Nachts eine Axt aus dem Holzschuppen und wollte den Pflegevater erschlagen. Mit Gewalt hielt ich ihn fest und gab mich ihm freiwillig. Er war jetzt dreizehn jährig, ich einige Monate älter als er. — Bald darauf flüchteten wir und trieben uns wochenlang umher. Pierre bettelte, arbeitete und stahl für mich. Wir wurden von der Gendarmerie ergriffen und in Zwangserziehungsinstitute gesteckt. Pierre flüch tete schon nach drei Monaten und befreite mich. Am nächsten Tag fing man uns ein. Vier volle Jahre sah und hörte ich nichts von meinem kleinen Beschützer und Geliebten. Eines Sonntags wurde ich in das Bureau geführt, dort qinem älteren I