Volltext Seite (XML)
967 DER MANN VON RIVERSIDE Von PETER SCHER In New York fuhr ich eines Abends mit dem Autobus up town. Als wir Riverside passierten, reckte ich neugierig den Hals, um die Lichtsignale des Kriegsschiffs auf dem Hudson besser zu sehen. Da riß mir ein plötzlicher Windstoß den Hut ab; ich schrie unwillkürlich: „Oh verflucht!“. Aber ein hinter mir sitzender Herr hatte rasch zugegriffen; er gab mir den Hut und sagte, ohne meinen Dank weiter zu be achten, ziemlich sachlich: „Ich vermute, Sie haben auf deutsch geflucht. Wollen Sie mir einen Gefallen tun?“ „Mit dem größten Vergnügen!“ sagte ich auf deutsch, aber er verstand nicht. Als ich es auf englisch wiederholte, sagte er lachend: „Ich war im Krieg“ — dabei schüttelte er sich, als ob er einen schlechten Schnaps getrunken hätte — „und habe von den Deutschen nur Flüche gehört ... — von unseren Leuten übrigens auch — aber zur Sache. Ich bin Advokat. Habe gerade einen Brief aus Deutschland be kommen. Können Sie mir den übersetzen?“ „Mit Vergnügen!“ „All right.“ Er klappte seine Mappe auf und gab mir den Brief. Irgendeine Frau aus Magdeburg, die einen Onkel in Massachusetts zu beerben hoffte, ersuchte um die und die Auskunft. „Gut“, sagte er, griff wieder in die Mappe, legte einen leeren Bogen mit seinem Firmenaufdruck darauf und reichte mir beides mitsamt dem Füllfederhalter: „Nun schreiben Sie die Antwort, bitte!“ Ein praktischer Mensch, bei Gott! Um mich nicht unnütz von seiner Angelegenheit abzulenken, nahm er mir den Hut vom Kopf und hielt ihn, während er den englischen Text hersagte, zu meiner Beruhigung mit beiden Händen fest. Ich beeilte mich, mit der Niederschrift meiner Uebersetzung fertig zu werden, bevor der Autobus vom glatten Riversideasphalt abbog, und es gelang mir, meinen Auftraggeber zufriedenzustellen. Als ich ihm den fertigen Brief übergeben hatte, erhielt ich meinen Hut zurück. „Sie haben mir Zeit erspart“, sagte er. „Und Sie mir einen neuen Hut — also sind wir quitt!“ Pause. Darauf wieder er: „Es ist nicht gesagt, daß Ihr Hut in den River geblasen worden wäre — also bin ich in Ihrer Schuld! Wollen Sie morgen mit mir lunchen?“ Ein amüsanter Mensch. Er hatte keine Ahnung, wie — sachlich er war. „Danke sehr,“ sagte ich vergnügt, „ich komme gern!“ Er nannte die Adresse eines Restaurants in der 43. Straße, gab mir die Hand und verschwand. — Am ändern Mittag, punkt 12 Uhr, war ich zur Stelle. Der lange, schmale Raum war wie ein Sack mit hungrigen Menschen voll ge stopft. Kellner schleppten ungeheure Platten mit Hummern und überlebensgroßen Beefsteaks hin und her. Hinter einer Reihe essender Männer stand eine Reihe war tender Männer, die schon die Hand ausgestreckt hielten, um die Zeitung von den ändern entgegenzunehmen, die vorläufig noch lasen und aßen. An vielen Tischen wurde gewürfelt. Als ich mich ratlos umsah, erhob sich von einem großen, runden Ecktisch, um den ein halbes Dutzend Männer saßen, mein Freund vom Autobus. „Sehr gut! Kommen Sie!“ Ich wurde den Herren vorgestellt. Sie nickten freundlich, ließen sich aber nicht weiter stören. Sie w'ürfelten gerade um eine Runde dicker Havannazigarren. Auch der Advokat verfolgte das interessante Ergebnis des Spieles mit gierigem Blick. „Sie müssen wissen,“ sagte er zwischendurch erläuternd, „wir alle hier sind vom Gericht, und in der Pause frischen wir unsere Nerven ein bißchen auf. Was wollen Sie essen?“