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927 daß es ein Unglück war. Er war zu traurig und zu lustig; zu einfach und zu schlau. Mit seinem stark gelebten und genossenen Leben, mit der Erinnerung an eine und an hundert Frauen, müde, jedoch nicht ermüdet, im Kreise seiner schwierigen For schungen, seiner Bücher, seiner Studien, verliebt in sich selbst und in mich, über sättigt von allen Frauen und doch nicht befriedigt, Experte im vielen Lieben, von irgendeiner sonderbaren Krankheit des Geistes befallen, nicht frei, aber auch nicht Sklave. Vielleicht gerade darum aber liebte ich ihn und erwartete ihn täglich, wie ein grausames Geschick, wie ein Glück und wie ein LInglück, welches mir die Seele versüßen und das Fleisch vergiften sollte. Aber eines Tages . . . eines Tages schrieb mein Verlobter, daß er die Orangenblüten mitbrächte, und Gilbert kam nicht mehr. Er schrieb: Meine kleine, liebe Sappho, ich darf dich nicht mehr sehen, ich werde in meiner Seele stets das Idol bewahren, das ich dort für dich errichtet habe . . . für dich allein und werde es weit mit mir nehmen, ich weiß nicht wohin, aber immer allein und immer einsam.“ „Und dann?“ „Dann ist Fräulein Sappho Praxede, ehe der Verlobte mit den Orangenblüten erschien, aus dem Hause gelaufen und hat sich dem ersten Manne hingegeben, der genau so gelogen hat, wie Gilbert . . . und von diesem Tage an ist Sappho Praxede nur noch Gamin . . . Nimmst du noch eine Tasse Tee?“ „Danke, es ist spät. Ich werde mich von Adrienne nach Hause bringen lassen.“ „Adrienne, Adrienne!“ Auf der Schwelle erschien das Mädchen, zweifelhaften Geschlechtes. Messidoro verschwand in dem weiten Mardermantel und dem Schatten der Nachtlampe. An der Ecke von S. Lorenzo in Lucina verabschiedete Messidoro Adrienne. „Danke, Sie können gehen, ich nehme ein Auto.“ Sie wankte unter das Licht einer Laterne, es war schon sehr spät. Die Vorüber gehenden wurden seltener, sie sahen in dem blassen Licht wie Gespenster aus. Sie zog ein Blatt Papier aus der Tasche. Es war kein Irrtum möglich. Sie las: „Ich habe Ihnen Veilchen gesandt. Es sind die Blumen des ewigen Frühlings. Sie selbst sind ja der ewige Frühling. Denken Sie daran, daß ich Sie seit heute liebe, daß ich keine Frau geliebt habe, ehe ich das Leuchten Ihrer herrlichen Augen sah. Gestern sagten Sie, daß Sie mich lieben könnten. Sagen Sie, daß dies nicht wahr ist, sondern daß Sie mich schon heute lieben, wie Sie liebt Ihr Gilbert.“ Ein junger, ele ganter, parfümierter Herr, im Auge das Monokel, kam vor über. Er sagte: „Komm mit mir, schönes Kind 1“ Messidoro ant wortete : „Ich komme! ‘ Zwischen den Zähnen entschlüpften ihr zwei giftige Worte: „Besser Gamin!“ Sie verließen den Korso und bogen in eine Seitenstraße. (Autorisierte Uebersetzung aus dem Italienischen von JOLANDA BRAMATI- BENDA)