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926 „Ein einziges Mal, ehe ich „Gamin“ wurde ... Ich hatte einige Männer kennen gelernt und darunter war Gilbert . . . O weh, jetzt habe ich den Namen genannt!“ Die kleine Lampe verlosch und wurde wieder angezündet. Gamin sah, wie Messidoros Augen flammten . . . Dann sagte sie: „Gilbert war damals vielleicht 30 Jahre alt. Er war Schriftsteller und grub sich seinen Weg mit Nägeln und Zähnen! Er war ein Leidenschaftlicher, ein Kranker, ein Träumer, ein Unruhiger, ein Schlafloser.“ „Erzähle, erzähle!“ „Gilbert lernte mich während der Zeit meiner Verlobung kennen. Eines Tages begegnete er mir auf der Straße und sagte mir, daß er mich liebe. Ich lachte ihm ins Gesicht. Ich konnte nicht verstehen, wie es möglich war, daß er mich liebte. Aber am nächsten Tage und den Abend darauf, heftig und zäh, von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag mit einer wilden Leidenschaft, einer Glut ohne Grenzen, mit einer Treue, die von seinem treulosen Leben kam, bestürmte er mich! Hättest du nur seine sanften Augen gesehen! Seine Liebe las ich aus ihnen, die mich ansahen, die mich suchten und frugen. Weitgeöffnet, tief und beweglich, wie seine Wünsche, unbeweglich wie sein Wille, voll von Versprechungen und Betrug, gut und grausam!“ „Gut und grausam?“ „Gut, auch wenn sie wagten, wenn sie betrogen und verwundeten. Er hatte mir sein Leben entschleiert, mir seine Schuld und seine Träume gebeichtet. Ein großer Ruhm, ein gerader Stolz, ein tapferer Kämpfer gegen eine Welt von Neid, Illusionen und Enttäuschungen, von Wahnsinn und Eitelkeit. Allein gegen alle mit seinem durchdringenden, scharfen Verstände, der so schneidend war, wie japanische Schwert klingen. Wenn er sprach, hörte ich ihm schweigend zu und wenn er mich fragte: „Sappho, liebst du mich? Sage mir, daß du mich allein liebst und daß du mit mir fliehen wirst!“ dann fühlte ich, daß ich ihn liebte.“ „Du liebtest Gilbert?“ „Ueber alles liebte ich ihn, aber damals war ich Sappho Praxede, wohnte in dem Hause, in dem ich geboren war, mit meinen Verwandten, Freunden und war verlobt. Ich bekämpfte meine Liebe, wenn ich fühlte, daß sie mich zu überwältigen drohte, dann sagte ich zu mir: Sei ruhig mache keine Dummheiten, möchtest du etwa mit ihm durchgehen und ihn in einem Hotelzimmer lieben? Nein, sagte ich mir, du bist Fräulein Praxede, ein anständiges Mädchen mit 70 000 Lire Mitgift! Du wirst dich nicht kompromittieren, nie, nie! Aber am Abend kam Gilbert mit seinen Träumen, seiner Phantasie, seinen Bitten. Im Dunkeln nahm er meinen Kopf, zog ihn an den Haaren nach hinten, drückte seine Lippen auf die meinen! Ohne Mitleid, ohne Mit leid! Mein Herz erzitterte und warnte mich. Manchmal, wenn er bei uns im Hause war, wo viele Menschen versammelt waren, sprach er. Er erzählte von Kunst, Poesie und Frauen. Alle hörten ihm zu, ich schloß die Augen. Wenn ich sie öffnete und den seinen begegnete, sagte ich mir: „Nichts sagt er, nichts erzählt er, nur von seiner Liebe spricht er. Nur mich liebt er. Auch am nächsten Abend, durch viele Monate hindurch, ein ganzes Jahr. Dann dachte ich, würde er verschwinden. Aber er blieb den ganzen Sommer. Manchmal verging die Zeit langsam und traurig unter dem Gewicht meines und seines Lebens, mit übermenschlichen Ausbrüchen, als hätten sich aus seinem Herzen alle Leidenschaften des Fleisches, die ganze Wollust seines Blutes entfesselt. Ich litt sein Leiden, genoß seine Freuden, ich war krank und un vernünftig vor Liebe. Auch ihn exaltierte die Liebe, fraß an ihm, zerstörte und de mütigte ihn... Ich dachte an mein Leben, an meine Mitgift, meinen Verlobten, der auf die Heirat wartete, an die dummen Leute, die mich ansahen, die meine Schritte zählten, an Gilbert, der mich liebte und den ich nicht wiederlieben durfte. Ich fühlte,