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..Sie haben mir immer noch nirhi ge sagt, warum Sie so schön lächeln?" ..In meinem Büro — habe ich etwas aufgeschrieben. Ich werde es später sagen. — Wo wohnen Sie eigentlich?“ i ragte sie plump. ..In Mühlheim in Thüringen. Da ist meine Fabrik.“ ..Was für eine Fabrik?“ ..Drahtschleifen für Straßenbahnwagen. Die Führungsschleifen, wissen Sie?“ Nein. Anna hatte nie gewußt, daß die in einer Fabrik gemacht werden. Ge wußt wohl, aber nie darüber nadi- gedacht. Herr Lindermann hat die glei chen Ecken an der Schläfe wie Karl, nur daß er dicker ist. Er hat gut lasierte Wangen. Er ist nach Berlin gekommen, um sich hier zu amüsieren. „Ich bin nach Berlin gekommen, um einen größeren Auftrag abzuschließen. Ich bin sehr froh, daß ich den Abend so nett verbringen kann.“ Denn Herr Lin dermann haßte diesen Nachtzug, vor dessen Abfahrt es nicht mehr lohnte, in ein Hotel zu gehen. „Gehen Sie gern ins Kino?“ Einen Augenblick stutzte Anna. Ins Kino war sie auch mit Karl immer gegangen. Auch Herr Lindermann wußte nichts zu reden. Aber er ging groß und breit, warm und vertrauenswürdig neben ihr her. Arm in seinem Arm. Der kleine Koffer, den er ihr nicht abgenommen hatte, schlug im Gehen leicht gegen ihr Knie. Sie gab ihn auch in der Garderobe nicht her. Anna zuckte nicht einmal zu rück, als Herr Lindermann den Arm um sie legte. Doch, sie wollte nett sein. |a, sie wollte ihn auch küssen — warum nicht, später — nur hier wollte sie noch auf die Leinwand schauen. Auf der lein wand war eine kleine Stadt, in der etwas Komisches geschah, ein Straßen bahnwagen fuhr schnell durch eine zu schmale Straße. „Ist das wie in Mühl heim?“ — „Aehnlidi.“ Ein kleiner Marktplatz. Ein Schloßberg mit dicken Bäumen, die im Winde wankten, ein kleiner Fluß. Hinter allen diesen Fen stern wohnten fremde, freundliche Leute. Ein geräumiges Gasthaus, ein dicker Wirt, ein Papier- und Schreibwaren laden. Man konnte hinfahren und klei nen Jungen Hefte und Bleistifte ver kaufen. Man konnte für sein Geld in diesem Gasthaus wohnen, oder sein Brot damit verdienen, Kohlköpfe zu Markt zu fahren, kutschierend wie die Frau da oben in weiten Röcken, vor der das struppige Pferdchen die Ohren spitzte. Oder man konnte in einer der glatten \ illen zu Hause sein, Hausfrau sein, in dem blanken Glasvorbau oder im Gar ten unter dem Sonnenschirm. Schlimm stenfalls aber an einer Schreibmaschine sitzen in einem Fabrikbüro. Auf der Leinwand torkelte längst eine ziemlidi blutige Sache dem glücklichen Ende ent gegen. Auf Annas Hals lag eine große warme Hand. „Jetzt“, dachte Anna, „wird etwas ge schehen. Denn ich bin dazu bereit. Ich bin frei.“ Sie waren beide frei, in zwei Stunden ging sein Zug. Anna wandte sich zur Seite und suchte im Dunkeln sein Gesicht. „Ich möchte mitkommen“, sagte sie, „ich will hier fort.“ „Wohin?“ fragte Herr Lindermann. Aber Anna schwieg. Sie hatte den Arm in seinen geschoben. Sie spürte nur den Gleichtakt der Schritte, die Nähe eines Menschen neben sich auf der Straße. Zur Bahn? In eine Bar? In ein Hotel? Wohin immer, dachte Anna und sah sich jeden Weg zu Ende gehen. Zur Bahn, ins Hotel, während sie schon in der Ecke einer Bar vor einem grünen Gläschen saß und den scharfen Pfeffer minz-Geschmack auf der Zunge kostete. Es pochte eine leise Unzufriedenheit in ihr, als wäre es nichts Besonderes, was sie da tat. Es sollte anders sein, meinte sie. schärfer unterschieden von allem, was sie bisher erlebt hatte. Herr Linder- mann. der merkte, daß er sich fest gefahren hatte, flüsterte zärtlich an ihrem Ohr: „Was also stellt auf dem Zettel im Büro?“ „Es ist der Kalender“, flüsterte Anna geheimnisvoll zurück. „Darauf steht — ich gehe fort. Nein, ich komme nicht wieder,“ Herr Lindermann, nicht schnell von 94