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derblich und hinderlich sein. Das fol gende Beispiel vermag dies deutlich zu zeigen. Jemand will seinen Chef um Gehalts zulage bitten. Er ist aber etwas ängst lich und gehört zu den kleingläubigen Naturen, die in den einfachsten Dingen einen Haufen Schwierigkeiten entdecken. Was wird der Chef bloß sagen? Welche Miene wird er machen? Vielleicht wird er ärgerlich sein. Er legt sich also jedes einzelne Wort zurecht, hört sich schon sprechen, die Einwände des Chefs ge schickt parieren. Er sieht auch schon deutlich seinen C hef hinter dem Schreib tisch sitzen und eine Zigarre rauchen. Die ganze Situation, bis ins Einzelne ausgemalt, steht ihm plastisch vor Augen, und er denkt sich immer mehr in sie hinein. Nun kommt der Augen blick, wo er tatsächlich handeln soll. Er klopft an — wie er es hundertmal in seinen Phantasien getan hat; er drückt die Klinke herunter, öffnet die Tiir — alles war ja genau einstudiert. Er tritt ein, aber mit einemmal sieht die Situation ganz anders aus. Wo sitzt der Chef? Er sitzt ja gar nicht rauchend hinter seinem Schreibtisch, sondern steht mit verschränkten Armen am Fenster, l ud nun will er sogar entgegenkommen? Das ist ja unglaublich. Alles ist ja anders und paßt gar nicht zu den Vor stellungen. die er sich vorher gemacht hat. Der Chef hat gute Laune, schlägt ihm auf die Schulter und sagt: „Na, Meyer, das paßt ja gut, daß Sie gerade her einkommen. Ich wollte Sie in diesem Augenblick rufen lassen wegen des Protestwechsels Müller und Schulze.“ — Da steht nun Meyer mit seinem Talent und seiner auswendiggelernten Ansprache. Er findet die richtigen Worte nicht, stammelt Dummheiten und macht alles in allem einen höchst peinlichen und unsicheren Eindruck . . . Wer hätte nicht Aehnliches schon er lebt oder mindestens geträumt? Dies Beispiel ist typisch für Menschen, denen es nie gelingen will, sich auch einmal über die Dinge zu stellen; die alles aus höchst privatem Gesichtswinkel betrach ten, deswegen immer feindlich mit den Dingen Zusammenstößen und nun — um nicht immer zu unterliegen — die Legende von der Allmacht des Willens erfunden haben. Sie schlagen sich mit tausend störenden Gedanken und Ge fühlen herum und meinen, alles wäre schon getan, wenn sie sich nur lange genug den Kopf zerbrächen. Als erstes gilt es, locker, aufgeschlossen und gelassen zuzuhören, was die Dinge uns zu sagen haben und was sie von uns wollen. Weiter dann das einfach Nächst liegende zu beginnen. Denn die Ereig nisse vollziehen sich nach einem inneren Gesetz, und sie werden sich dem willig fügen, der diesem Gesetz geduldig und gewissenhaft nachspiirt und es zu er füllen sich bemüht. „Du armer, blasser Bruder“, sagt ein Indianer zu einem Europäer, „wie be- daure ich dich, daß du keinen Augen blick hast, wo du gar nicht denkst.“ Man lächelt wohl über solch „kindlich primitive“ Worte, aber weisen sic denn nicht schlicht und einfach auf den ein zigen Zustand hin, der ein richtiges Ver halten garantiert? Und zu dem es gar- keiner Willensanspannung bedarf? Wer dazu nicht fähig zu sein glaubt, erinnere sich nur einmal eines fröhlichen Tanzes, zu dein man sich ja auch nicht zwingen kann. Man kann sich nur deswegen seinen Schwingungen hingeben, weil vor her schon das LIerz im gleichen Rhyth mus schwang. Es geht nämlich entweder alles von selbst, oder alles ist so kompliziert, daß es überhaupt nicht geht. Man kann aber das Einfachste so verkomplizieren, in dem man sich Gedanken darüber macht, daß man beim besten Willen nichts mehr zustande bringt. Als die Kröte den Tausendfüßler fragte, wie er es fertig- brädite, immer den richtigen Fuß zu be wegen. sagte der Tausendfüßler, daß er darüber nodi gar nicht nachgedadit hätte. Dächte der Tausendfüßler an seine Füße, so würde er bestimmt nidit mehr von der Stelle kommen.