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Wert darauf legen, den betreffenden Gast bei sich oder in seiner Gesellschaft zu sehen, so wird er nicht derartige Be merkungen, die ein bißchen beleidigend wirken, machen. Ist es nicht ziemlich gleichgültig, was der betreffende Gast anzieht, wenn man nur seine Persönlich keit schätzt? Dazu kommt auch die Scheindemo kratie. Man lebt in einer Republik, aber man freut sich jedesmal, wenn man mit einem Adligen zu tun hat. Der beste Beweis dafür ist der Domela- Skandal. Auch stellt man sich stets mit einem Titel vor. Was jedem Chinesen unbedingt auf fallen muß, wenn er zum ersten Male nach Europa kommt, ist die Klein staaterei. In China kann er drei, vier oder mehrere Tage mit der Eisenbahn fahren, ohne die Grenze zu überschrei ten. Deswegen ist eine Fahrt nach dem Ausland für uns stets als große Reise zu bezeichnen. Hier braucht er z. B. nur von Neapel nach Frankfurt a. M. zu fahren, so passiert er schon drei Staaten. Allgemein wird hier der Krieger viel höher geschätzt als der Gelehrte. Vor dem Kriege war sogar ein bürgerlicher Professor, wenn er noch nicht Geheimer Rat war, nicht hoffähig, dagegen aber ein junger Leutnant. Als ich nach Berlin kam, wollte ein deutscher Bekannter mich einer vornehmen Familie vorstellen und bemerkte nebenbei: „Es ist eine Offi ziersfamilie!'' Ich habe mich damals sehr gewundert, warum ausgerechnet eine Offiziersfamilie. Mir wäre lieber gewesen, wenn er zu mir gesagt hätte, daß es eine Gelehrtenfamilie wäre. Wie wenig kennt man zum Beispiel in Berlin die Denkmäler von Rudolf Virchow, Robert Koch, Emil Fischer, dagegen weiß jeder von Wilhelm I., Bismarck, Moltke und Roon. Was am unerträglichsten für einen Chinesen ist, ist wohl das hiesige Familienleben. Hier in Europa kennt man in der Familie nur Mann, Frau und Kinder, dagegen rechnet man die Eltern und Geschwister schon nicht mehr zur Familie, noch weniger die Geschwister des Vaters. Jeder schätzt die Liebe zur Frau und zu den Kin dern, dagegen ist die Liebe zu den Eltern und Geschwistern und zu Freun den in Europa sehr selten. Es ist un verständlich, wie man plötzlich in ein bisher fremdes Mädchen so verliebt sein kann, daß man dadurch seine Eltern und Geschwister, mit denen man doch schon jahrzehntelang zusammen gelebt hat, vernachlässigt. Wer seine Litern seiner Frau zuliebe vergißt, kann sicherlich auch eines Tages einem ande ren Mädchen zuliebe seine F rau ver gessen. Ist das nun wirklich Liebe oder vielmehr Selbstsucht? Wir sagen immer: wer seine Eltern, Geschwister, Frau und Kinder zu lieben weiß, der weiß auch die Mitmenschen zu schätzen. Fr wird stets ein Edelmann bleiben. Um gekehrt: ein wahrhafter Edelmann wird seine Nächsten niemals vergessen. Für uns genügt cs nicht, wenn man seine Eltern nur unterstützt; man muß eben seine Eltern mindestens so gut unter halten wie seine Frau und Kinder. Die Eltern sind doch meistens viel älter als die Frau, deshalb ist die Zeit kürzer und die Gelegenheit geringer, seinen Eltern Liebe zu beweisen. Daß man hier sogar um einen Pfennig zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern und Geschwistern rechnet, wäre bei uns unmöglich, da solche Hand lung die Liebe der Familie zerstört. Nach unserer Auffassung kann das Glück des Menschen nur durch harmonisches Zu sammenleben der ganzen großen Familie bestehen. Zeichnungen von Martin Koser