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eine junge Hofdame in Ungnade fiel, weil sie sich ungeschickt anstellte bei dem ihr an befohlenen Fange einer Fliege, die Ihrer Majestät Kaiserlichem Haupt nahezukommen gewagt hatte. Die Hofdame war sehr jung und sehr schön. Sie hieß Djin-Me und hielt sich wie eine junge Königin, obwohl sie nicht einmal eine Prinzessin von niederem Rang war. Tochter eines vornehmen Mandschu, in alt modischer Abgeschlossenheit liebevoll erzo gen, hatte sie erst kurze Zeit die Ehre, zum Hofstaat der Kaiserin zu gehören. Bis jetzt hatte sie in scheuer Willigkeit ihren Dienst bei der Herrscherin versehen, sie wagte nicht, sich von den ihr feindlich gegenübertretenden älteren Hofdamen Rat zu holen und suchte sich allein zurechtzufinden auf dem fremden Boden; Takt und gute Er ziehung halfen ihr dabei. — Nun diese harten Worte, als sei sie eine ungeschickte Magd — und die allen offenbare Ungnade der Kai serin, die sie sogar aus dem Zimmer verwies. Djin-Me stand da wie vernichtet. Mit tödlichem Entsetzen mußte sie dann noch — gleich den ändern Hofdamen, denen das nichts Neues und Aufregendes mehr war — der Auspeitschung der zwanzig Eunuchen durch Li beiwohnen. Die Opfer schrien, und jeder Schrei ging wie ein Schwert durch ihr junges, weiches Ilerz. — Da schlugen Empö rung und verletzter Stolz über Djin-Me zu sammen und machten sie kopflos. — Sobald Ihre Majestät sich zur gewohnten täglichen Audienz in den Thronsaal begab und die jüngeren Hofdamen sich zurück ziehen konnten, stürzte sie in ihr Gemach, zerrte sich das blumenbestickte seidene Prachtgewand vom Leibe, riß sich Blumen und Schmuck aus dem künstlich aufgedreh ten Haar, suchte aus einem der roten Kleider kasten ein ganz einfaches, einfarbiges Gaze gewand hervor, lief ins Zimmer ihrer Diene rin, das hinter ihrem Gemach lag, und ergriff ein schlichtes Überkleid, das die Frau dort für Ausgänge hängen hatte, und schlüpfte aus dem Hause. Sie wollte fliehen. Sie durch querte ein paar der marmorgepflasterten Höfe, die still und einsam in der warmen Sonne dalagen; Gras wuchs zwischen den Steinen; uralte bronzene Fabeltiere auf mar mornem Sockel sahen ihr mit schläfrigen Augen nach, und wenn sie gekonnt hätten, würden sie die Köpfe geschüttelt haben über dies törichte junge Blut, das in sein Unglück rannte. Sie hielt sich immer dicht an den Häusern im Schutz der überdachten Veran den, bis sie die Dienerviertel erreichte. Auch hier ruhte alles hinter Gazefenstern und Schilfvorhängen, die herabgelassen waren, um die Sonne abzuhalten. Aber am Tor sah sie zwei Wächter stehen und fühlte, sie würde nicht mit ruhiger Stirn zwischen ihnen hin durchschreiten können, als sei sie in Wahr heit die Dienerin, deren Gewand sie trug, — ihr Beben und ihre Zagheit würden sie ver raten. So bog sie in einen Seitengang ein, entschlossen, einen anderen Ausweg zu fin den. Sie lief Steintreppen hinab, hinauf, auf schmalen mosaikgepflasterten Pfaden, durch künstliche Tropfsteingrotten, unter hohen Balluslraden hin, die, von betäubend duften der Glyzinienwirrnis bedeckt, kein Mauer werk durchblicken ließen. Schließlich war sie so hoch gestiegen, daß die ganze Anlage des Wan-IIou-Shan, des Sommerpalastes, tief unter ihr lag, blütenüberschüttet, bunt farbig — bis zu dem im starken Licht me tallisch blendenden See sich hinabsenkend. Sie sah die geschwungene, lichte Brücke, die zum grünen Inselchen den schönen Bo gen schlug; sah die Staatsboote der Kaiserin träge wartend längsseit des marmornen Drachenschiffs am Ufer, von wo aus die Herrscherin und ihr Gefolge sie zu besteigen pflegten. Sehnsüchtig blieben ihre Augen an dem See hängen — dort unten am Grunde mußte es kühl und ruhevoll sein, und die klaren Wasser würden alle Schmach von ihr abwaschen; aber sie durfte sich nicht dort hinunterwagen, wo ständig Wächter die Ufer umstrichen. — Die Ehre ist ein merkwürdiges Ding: in jedem Land sieht sie anders aus. Wer in China im Beisein anderer angeklagt oder gedemüligt wird, hat sie verloren, ganz gleich, ob er schuldig oder unschuldig ist. Er hat sein „Gesicht verloren“, wie die wörtliche Übersetzung dieses Begriffes ,,tiu leen“ heißt. Und Djin-Me hatte ihr Gesicht verloren, wenigstens war sie überzeugt, daß es so sei.