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AUS DEN LEBENS NES on Kann man ohne Arme zur Tifelt Jcommen und sein Leben dodi voll und ganz genießen? Der jj jährige Autor antwortet mit einem lauten und bestimmten: Jal Er hat die Güter d es Lebens stärher und intensiver empfunden als mancher „normale“ Adensdi. A m 5 . April 18/18 sandte ich mit dem . Strahl der aufgehenden Sonne meinen ersten Schrei in die Welt hinaus, dem andere, bald in höchster Vollendung, folgten. Meine Umgebung fiel aus einem Entsetzen ins andere, weniger des Schreiens als der Dreistigkeit wegen, mit der ich mich ohne Arme in diese hochgepriesene und noch ärger geschmähte Welt gewagt hatte. Was sollte, was konnte auf diese Art aus mir werden? Den ewig Durstigen im Dorfe bot diese Frage Gelegenheit, ihre Aufregung im Krug mit viel Schnaps zu dämpfen, worauf sie mein Schicksal rasch und erschöpfend dahin erledigten, daß ich ohne Arme gar nicht lebensfähig sei. Die weise Frau, die mir den Weg in die Welt gewiesen hatte, teilte diese Meinung nicht, als sie meinem Vater vorschlug, sie werde den Schaden mit einem auf mein Gesicht gedeckten Kissen endgültig heilen. Die Er klärung meines Vaters, Mord schicke sich nicht für einen Lehrer, nahm sie mit Ab scheu auf, der sich rasch in Gleichgültigkeit verwandelte. Meiner Mutter hatte man meinen unvor schriftsmäßigen Zustand verheimlicht, bis sie wieder zu Kräften gekommen war. Sie und ich waren die einzigen, die von der im Dorf herrschenden Aufregung verschont blieben. Nachdem ich mich hungrig geschrien (außer im Schreien habe ich es in meinem langen Leben nur noch im Lachen und Schwimmen zur Vollkommenheit gebracht), trank ich an der reichlichen Quelle der Mutterbrust, bis ich einschlief. Mein Ehr geiz blieb vorläufig beim Schreien, Saugen und Schlafengehen. Auf meines Vaters Eröffnung, ich sei armlos, sagte meine Mut ter: „Es ist unser Kind; der Herrgott wird es nicht verlassen!“ Am Tage nach meiner Geburt fand im nahen Liebstadt der Jahrmarkt statt, ein Fest, zu dem die Umgebung von weit und breit pilgert. Das Tagesgespräch wurde ich, und in drei Tagen war meine Unvorschrifts mäßigkeit über die ganze Provinz verbreitet. Nach der Zeit des Weinens und Schreiens verlegte ich mich aufs Lachen und Jauch zen, das mir prächtig gelang, bis Tanten, Basen und Neugierige ihre Wohltaten über mich ergossen. Diese Wohltaten wurden mein erster und bitterster Feind. Sie be standen aus weinerlichen Worten wie: „Du armes Wurm, was hast du verbrochen, daß du so gestraft bist; bitten wir den lieben Gott, daß er dich bald zu sich nehmen möge!“ Mein Vater hatte beobachtet, wie 80 ERINNERUNGEN ARMLOSEN der Ton des Bedauerns mich jedesmal zum Weinen brachte. „Der Junge darf nicht be dauert werden; wer es zuläßt, bekommt's mit mir zu tun.“ Mit diesem Befehl hatte er das erste der drei Gebote erlassen, die verhüteten, daß sich zwischen mir und der Umwelt von vornherein eine Scheidewand aufbaute. Ob er sich dessen damals bewußt war? Ehe ich ein Jahr alt wurde, war es mei nem Vater aufgefallen, daß ich mit den Füßen nach Gegenständen griff, sooft die Zehen entblößt waren. „Zieht dem Bengel keine Schuhe und Strümpfe an; laßt die Füße bloß“, war das zweite Gebot. Den Ein wand, ich würde mich erkälten, wies er mit den Worten ab: „Unsinn; wir erkälten uns ja nicht an den nackten Händen.“ Fortan spielte ich wie alle gleichaltrigen Kinder, führte die Ringe zum Munde wie sie, nahm ihnen das Spielzeug weg, wie sie mir, und schlug zu, wie sie auch. Was in der Seele eines Kindes vorgeht, das abseits der Kameraden sitzt und tatenlos ihr Vergnügen betrachten muß, habe ich nie erfahren; ich saß mittendrin und frohlockte am lautesten. Bald nach meinem zweiten Geburtstag war’s. Wir saßen beim Abendbrot. Mutter schob einen Teller Grütze an mir vorüber. Ich langte mir eine Fauslvoll mit den Zehen und stopfte sie mir in den Mund. Großes Geschrei. „Wascht den Fuß, gebt dem Ben gel einen Löffel und laßt ihn selbst essen.“ Die Kunst gelang mäßig; jeder wollte hel fen, nur Vater nicht. „Laßt den Jungen machen, wer ihm bei seinen Versuchen hilft, bekommt's mit mir zu tun.“ Das war das dritte der Gebote, die mich zum selbstän digen, vollwertigen Menschen gemacht haben. Hätten nur einzelne der neunhundert Orts bewohner den Mul gehabt, meines Vaters Befehle zu mißachten, so wäre meine spä tere Selbständigkeit damals schwer beein trächtigt worden. Aber ich hätte den sehen mögen, der diesen Mul aufgebracht hätte! Noch immer machte ich keinen Gehversuch, w as die Meinen ängstigte. Aber eines Tages erhob ich mich einfach vom Fußboden und ging zur offenenTiir hinaus.Große Freude. Kein Armloser macht vor dem zweiten Jahr einen Gehversuch, was ich erst nach vielen Jahren von verschiedenen Seiten erfuhr. Meine Erinnerung be ginnt mit dem ersten Photo Studio 9 81