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Betäubungsmittel (Opium) verabreicht und dann im Schlafe Haare und Nägel geschnitten und reine Wäsche angezogen worden sei. Der seltsame Fall, von dem Bürgermeister Binder in einer ausführlichen, ganz von dem herkömmlichen, trockenen Amtsstil ab weichenden, pathetischen Anzeige öffentlich bekanntgemacht, erregte in ganz Deutsch land, ja Europa das größte Mitleid und Auf sehen. Nach zwei Richtungen nahmen die Zeitgenossen an dem Findling besonderes In teresse. Einmal stellte er in psychologischer Hinsicht ein Kuriosum ersten Ranges dar. Hier war ein erwachsener Körper mit der Seele eines Kindes, ein Wesen, das ohne alle menschliche Gesellschaft aufgewachsen war. Auf die seit Plato von Philosophen und Dichtern oft aufgeworfene Frage, welchen Eindruck die Natur auf einen Menschen machen würde, der sie in reiferen Jahren zum erstenmal gewahr werde, schien hier die Antwort gegeben und zugleich der spre chende Beweis für Rousseaus Überzeugung von der ursprünglichen Güte der ganz sich selbst überlassenen menschlichen Kreatur. — Stärker noch als dies psychologische Inter esse war aber das kriminelle. Man war allge mein überzeugt, man müsse es mit einer Per sönlichkeit von hoher Abkunft zu tun haben, der durch die grausame Einkerkerung die Rechte der Geburt vorenthalten worden seien. Und diese Meinung erhielt bald noch eine unerwartete Bestätigung. Am i 7 . Oktober 1829 wurde Hauser, der inzwischen zu dem Professor Daumer in Pflege gegeben war, vermißt. Man fand ihn schließlich im Kel ler, mit einer blutenden Stirnwunde. Nach seiner Angabe war er auf dem Abtritt von einem Vermummten überfallen worden; nur die Enge der Lokalität hatte das Go-’ ingen des Mordversuchs verhindert. Die Wunde war bald geheilt; Hauser wurde von , a a _ b dauernd polizeilich überwacht. Auf die Ergreifung des Täters wurde eine hohe Belohnung ausgesetzt; doch blieben alle Nach- Forschungen vergeblich. Die weiteren Schicksale Hausers können hier nur flüchtig gestreift werden. Ein rei cherEngländer, Lord Stanhope, nahm den ' indling als Pflegesohn an. Der berühmte Kriminalist Anselm v. Feuerbach (Großvater des Malers) trat in einer glänzend geschrie benen Broschüre für Hauser ein und nahm ihn zu sich nach Ansbach, wo er als Ge- nchtsschreiber beschäftigt wurde. Am iA Dezember i 833 kam er atemlos nach Hause gerannt mit einer tiefen Stichwunde in der Brust, die ihm nach seiner Angabe ein Un bekannter im Ilofgarten beigebracht hatte. Man fand an der betreffenden Stelle einen Beutel mit einem mysteriösen Zettel in Spiegelschrift. Hauser erlag am vierten Tage der Verletzung. Von dem Täter fand sich auch diesmal, trotz Aussetzung einer für da malige Verhältnisse ungeheuren Belohnung keine Spur. 0 Man kann sich vorstellen, welches Auf sehen dieses gewaltsame Ende des „Kindes von Europa“ machte und wie dadurch die Gerüchte über seine hohe Abkunft neue Nah rung erhielten. Schon zu seinen Lebzeiten hatte man die geheime Geschichte aller fürst lichen und hochadligen Häuser daraufhin durchforscht. Viele Vermutungen wurden offen oder versteckt geäußert, die sich alle früher oder später als haltlos herausstellten Nur eine Ansicht hat sich bis heute, allen Widerlegungen zum Trotz, behauptet, die nämlich, Hauser sei der für tot ausgegebene Thronerbe Badens gewesen. Diese Annahme kann sich auf keinen Geringeren als Feuer bach berufen, der sie in einem geheimen Memorial an die Königin Karoline von Bayern als eine zwar nicht juristisch beweis bare, aber „sehr starke menschliche Ver- mutung, wo nicht vollständige moralische Gewißheit“ bezeichnete. Worauf stützt sich nun diese Vermutung? In Baden regierte seit 1818 Großherzog Ludwig, der dritte Sohn erster Ehe des nach fast 65 jähriger Regierung 1811 verstorbe nen, durch seine Freundschaft mit Klopstock bekannten Markgrafen, späteren Großherzogs Karl Friedrich. Als Ludwig i 83 o unvermählt starb, folgte ihm Leopold, der älteste Sohn aus Karl Iriedrichs zweiter, morganatischer Ehe mit dem Freifräulein Luise Geyer von Geyersberg, die später zur Reichsgräfin von Höchberg erhoben wurde, und deren Söhne als thronfolgeberechligt anerkannt waren. Daß Ludwig und nach ihm Leopold zum Throne gelangten, war das Ergebnis von fünf z. T.