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Eine Irrenhausgesckichte von Otto Rung Zeichnungen von B a r l o g D er Chefarzt visitierte den Garten pavillon B der Anstalt. Es war heute ein reines Idyll. Die Patienten, die den Professor liebten, gaben sich Mühe, so vernünftig wie möglich zu sein. Die Oberschwester strahlte über das schöne Er gebnis. Sie kamen zu Patient Nr. 71, der sich höflich von einem Kreuzwort-Kätsel, seiner Spezialität, erhob. „Nun, Herr Jörgensen,“ sagte der Professor, „heute gewin nen Sie sicher den Preis von der Sonntagsbeilage. Und haben Frieden vor den Freimaurern, nicht wahr?“ — Herr Jörgen sen war hier, weil alle Frei maurer des ganzen Landes je desmal, wenn er auf den Oden- seer Bahnhof kam, in Reih’ und Glied aufgestellt waren, auf ihn zeigten, und heulten: „Da ist er!“ „Danke, Herr Professor. Ich hin heute froh und dankbar.“ Der Patient bedachte sich einen Augenblick. Seine Stirn fal tete sich. „Nur über eine Sache muß ich nachdenken: Sehen Sie, Herr Chefarzt, im Sommer ist doch alles warm und im Winter alles kalt, nicht wahr, Herr Pro fessor?“ „Gewiß, Jörgensen, gewiß!“ Jörgensen schüttelte betrübt.den Kopf. „Aber denken Sie nun mal an einen Ofen! Der ist kalt im Sommer und warm im Win ter!“ Die Augen des Patienten rollten. „Und wenn ich daran denke, gerate ich einfach — außer mir!“ Jörgensen stampfte mit beiden Füßen auf den Bo den wie ein Stier, während er mit tönender Stimme dekla mierte: „Wulle, Wulle! — Bum, Bum!“ Der Chefarzt sah die Pflege mutter an. „U“ sagte er. Das bedeutete unruhig, was die fortgeschrittenen Patienten je doch längst bemerkt hatten. Die Visitation ging weiter. Da stand ein kleiner Patient mit hoher, kahler Stirn und hängendem Schnurrbart und lauschte erschrocken auf Nr. 71, Jörgensens energisches, an haltendes „Wulle,Wulle! Bum, Bum!“, das sich nun in der Ferne, im Seitenflügel F verlor. Der Herr Chefarzt macht Visite 62