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^rdttmem Dor einem 25ilb 23 on Als ich es zum erstenmal sah, vor Jahren in der Stuttgarter Galerie, hieß es noch das Bildnis einer Unbekannten von einem Unbekannten. Utas erste ist noch sein Name. Ben Künstler aber hat man indessen herausgebracht. Er war nach Jugendträumen von Erfolg und Kuhm schon bei Lebzeiten ein stiller Mann geworden, in Jenen dreißig Jahren, bis 1841, da er Universitätszeichenlehrer in Tübingen war. Er hieß Dörr, ist keiner von den Großen seiner Zeit, auch in Schwaben, in seiner Heimat nicht. Aber er ist in seinen früheren Bildnissen, vor allem seinen Frauenbildnissen, den Menschen seiner Tage so rätselhaft nahegekommen, wie das Malerei sonst kaum vermag und wie das eigentlich sonst nur Sache der Dichtkunst ist. Er ist ihnen so nahegekommen, daß man ein Bild von ihm, das man einmal sah, nie vergißt. J enes „Bildnis einer Unbekannten“, das um 1810 entstand, ist wohl das schönste, das Dörr je gelang. Es ver folgt mich von der Stunde an, da ich es kenne. Wenn immer ich in das schöne, florenzhafte Stuttgart komme — mein erster Gang gilt meiner „Unbekannten“. Zu Beginn waren es nur die Augen; Augen, in denen durch die Malerei etwas ausgesprochen ist, von dem man nicht glaubt, daß Farbe und Pinsel dessen fähig wären; Augen, die mich bannten; Augen, die es sonst nie in einem Gemälde gab. Da ist oft der Blick der Klugheit und der Tatkraft, wie in Dürers Holzschuher, der Liebe, wie in der Helene Froment, der Schalk haftigkeit, wie in Frans Hals’ens Bohemienne, der Hingabe, wie in Hen- drikje Stoffels, der Sehnsucht, der Rätsel haftigkeit und der uralten Grausamkeit, wie in Mona Lisa. Da ist Leichtfertig keit und Sinnenlust, Treue und Falsch heit — Hunderttausende von Abstufun gen. Aber unser, des Beschauers Auge, macht doch immer halt auf der perl- muttrigen Oberschicht. All diese Augen auf den Gemälden schauen nach uns, und w r ir schauen nach ihnen. Aber wir blicken nie in sie hinein. Wir fühlen auf Bildern nie das Auge wie das einer Geliebten, deren Kopf wir zwischen unseren Händen halten. Und hier in diesem bescheidenen Biedermeierbildchen war mit einemmal ein Auge, in das man hineinsah, das sich uns weit öffnete und die letzten Tore zur Seele nicht ver schlossen hielt. Hier waren Augen von der blaugrauen Tiefe eines Bergwassers, Augen schillernd in den Farben des Schwäbischen Meeres. Und um diesen unergründlich ruhigen Blick, dessen Wasserspiegel kein Windhauch trübte, entstand für mich, formte sich langsam in meiner Erinnerung das Idol dieses ganzen Wesens, mit seinen Zügen von herrlicher Reinheit, mit seiner hohen und graden Stirn, alabasterhaft kühl über den tragenden Bogen seiner Brauen, mit der ganzen wundervollen Einfach heit, der Lautlosigkeit seiner Formen- gebung, die doch dabei so stark und sicher ist, wie das nur je ein großer Meister schuf. Ich sah die Säule des Halses das Haupt halten und fühlte, wie Schultern und Rücken kühl und lebend zugleich aus der mattblauen Gewandung stiegen. Klare Höhenluft umfloß die Gestalt, man ahnte die Nähe der Rauhen Alp, und man glaubte alles wie durch eine Scheibe von Bergkristall zu sehen. Dieses Schwabenmädel, herrlich gesund und blumenhaft vegetativ, und dabei doch ganz gehalten, in sich beherrscht, von einer unerlösten Sinnlichkeit, die ihr im Blute träumt und in schwermütiger Nachdenklichkeit verklingt! Mörike, Uhlands Jugendverse, Friedrich Theodor 60