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Züge der Unechtheit; unecht die Materialien, unecht die historischen Stile, die wie faden scheinige Maskenkleider über eine schäbige und schmutzige Unterkleidung geworfen sind, unecht die Gesinnung, die stets etwas anderes und womöglich „Feineres“ im Schein vortäuschen will, als das tatsächliche Sein bedeutet; vollkommen hilflos, auch nur die rein sachlichen Forderungen vernünftig zu befriedigen, geschweige denn, eine künst lerisch und klar gestaltete Form für sie zu finden, im Ausdruck trübe und mürrisch. Dann setzt plötzlich Ausgang der neun ziger Jahre wie mit einem Ruck eine neue Bewegung ein, um dem Unheil, das sich wie eine Krebskrankheit als gigantisch wuchernde Zellenvermehrung ausbreitet, zu wehren. Sie versucht, zunächst einmal reinen Tisch zu machen, die tatsächlichen Bedürfnisse der Zeit zu erkennen und sie als klares Programm dem Bauen zugrunde zu legen. In den Foirmen will sie nicht das künstlich konservieren, was als weit hinter uns liegende Entwicklungs stufe unserem Gesichtskreis entschwunden ist, wohl aber den lebendigen Schatz alles Kön nens und Wissens bewahren, den nie ein ein zelner aus sich heraus plötzlich erfinden kann, sondern der das Ergebnis langer Kulturepochen ist. So soll das neue Haus sich deutlich als der Sproß unseres nordischen Kulturkreises bekennen und die Tradition genau da fortsetzen, bis wohin sie sich folge richtig und gesund entwickelt hatte, um dann aus Gründen, die hier nicht untersucht wer den können, auf ein totes Geleise zu laufen. Das Interregnum der großen Stil-Maskerade sollte eingekapselt und der Verödung über lassen werden. Die Bewegung gewann bald Boden, wuchs allmählich stärker und stärker an und wurde in zahlreichen Abtönungen als Bauprogramm der gesamten ernsthaften und geschulten Architektenschaft aufgenomimen, wenn es auch nicht möglich war, über Nacht aus einer Periode der schlimmsten Bauverwilderung eine Epoche mit sicherer Tradition herauf zubeschwören. II. Neben dieser Entwicklung, die allerdings durch den Krieg eine Unterbrechung erfuhr, tauchen nun seit einiger Zeit Bestrebungen auf, die ganz radikal mit unserer gesamten Vergangenheit brechen wollen und uns Häuser empfehlen, die in nichts mehr mit deutschem Gesicht und deutscher Landschaft etwas gemein haben sollen. Ganz offensichtlich handelt es sich hier um eine deutliche Trennung der Geister: auf der einen Seite die, die sich bewußt um den für sie unentbehrlichen nordischen Kultur kreis versammeln, und solche, die absichtlich das vermeiden, was dem Deutschen ans Herz gewachsen ist, da sie behaupten, daJß ihr Den ken und Fühlen sie nicht dahin ziehe. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als ihnen das zu glauben. Da es sich bei alledem nicht um eine ein heitliche Schule handelt, sondern ganz ver schiedenartige, oft einander entgegenstre bende Kräfte in Erscheinung treten, so muß versucht werden, all dies Zusammen gewürfelte zu trennen und es einzeln zu be sehen. III. Zweifellos ist der Kreis der Aufgaben, bei denen die bisherige Bautradition nicht mehr als alleiniger Führer dienen konnte, im Laufe des neunzehnten und besonders des zwanzigsten Jahrhunderts unabsehbar ge wachsen. Zwar können Dampfschiffe, Auto mobile oder Flugzeuge, wie sie heute so häufig als Musterbeispiele aufgeführt werden, kaum als architektonische Aufgaben gelten, da sie mehr die Funktionen einer Maschine zum Ausdruck bringen müssen, wenn schon auch ihre Gestaltung nicht allein auf dem Wege rechnender Konstruktion, sondern als künstlerischer Prozeß angesehen we den muß. Aber ganz sicher reicht die vorhandene Über lieferung schon dann nicht mehr zu, wenn wir sie auf Bahnhofshallen, Industriewerke und mancherlei mehr anwenden wollten. Unter dem Druck dieses neuen Bedürf nisses ist ein gänzlich neuer Seitenzweig der Baukunst entstanden oder richtiger, er ist noch im Entstehen, der dem in den letzten Jahrzehnten so mächtig gewordenen Reiche der Technik auch zu einem entsprechenden architektonischen Ausdruck verhelfen will. Die Zeiten, als man einen Schornstein mit einem korinthischen Kapital krönte oder ein Elektrizitätswerk in gotische Formen kleidete, 38