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Man kennt auch jene wunderbaren Masken des chinesischen Theaters und jene herr lichen Köpfe indischer Götter und Dä monen. Aber das hier überstieg alle Kunst, war phantastischer als die tollsten Aus geburten fiebrigen Dämonenglaubens und zugleich strotzender von urwüchsigem Le ben als der lebendigste Schauspielerkopf. Von Charakter vibrierend, aber mit allem Reichtum einer vollrunden Persönlichkeit. Betroffen blickte ich meinen Freund an: „Wo haben Sie das her? Wie kann man einen lebendigen Uhu, ein scheues Nachttier, photographieren? Denn daß es kein ausgestopfter ist, ergibt sich aus der ungeheuren Ausdruckskraft dieses Kopfes. Und wie kann man ihn gerade so, in der günstigsten und ergiebigsten Stellung, auf die Platte bringen?“ Der Freund lächelte: „Sie haben recht,“ sagte er, „es gibt nur einen Menschen in Deutschland, vielleicht in ganz Europa, der das kann. Er hat übrigens nicht weniger als sechstausend solcher Photographien gemacht.“ „Sechstausend? Den Mann muß ich sehen!“ „Er hat auch eine Frau, die ihm hilft. Ich werde Sie anmelden. Er wohnt im Aquarium.“ * Es war weder ein Märchen noch ein Aprilscherz. Er wohnte wirklich da. Ein mittelgroßer Mann, bescheiden, ruhig, mit jener wohltuenden inneren Festigkeit, die aus der Hingabe an eine Sache zu er wachsen pflegt. Ohne Schwärmerei, un sentimental, zurückhaltend zunächst, mit einem versteckt abwehrenden Mißtrauen gegen dumme Laienfragen, dann aber be haglich mitteilsam, lässig und ohne jedes Prunken aus dem Schatz einer ungeheuren Erfahrung schöpfend. Er zeigt mir nicht nur Bilder und Platten, er erklärt mir auch das Geheimnis ihrer Lebendigkeit. Fast sämtliche Vögel sind im Zimmer nach dem Leben photographiert. Damit sie zu traulich genug wurden und außerdem nicht, wie häufig in den Käfigen der Zoolo gischen Gärten, irgendwie Schäden davon trugen, war es nötig, sie von früh auf im Zimmer zu halten. Und zwar alle. Vom Kranich und Raubvogel bis zum Zaun könig und Goldhähnchen. Seit zwanzig Jahren hat er das so betrieben! In den beschränkten Räumen einer gewöhnlichen Berliner Mietswohnung. Er führt mich zuerst in die Brut kammer, wo seine Frau ein halb Dutzend zwei und vier Tage alter Möwen, reizende, hübsch getigerte Flaumkugeln, mit Fisch stückchen atzt. „Sie müssen uns für ihre Eltern halten, dürfen ihre eigenen Eltern gar nicht kennen. Sonst behalten sie immer etwas Scheues.“ Dann kommen wir in ein ausbetoniertes Zimmer mit großen Schei ben. Auf einem Querbalken nistet eine Ra rität: ein schwarzer Storch, der zutunlich knurrt, weiter hinten hocken drei junge Weihen. Zwei junge Trappen, bekannt lich fast die scheuesten Vögel, stolzieren herum. Vielleicht halten sie uns wirklich für alte Trappen. In einer Umzäunung zwei junge Möwen. Ein Käfig mit Sing vögeln, einer mit Eulen, einer mit einem kleinen Falken. Alle Tiere haben Namen, manche zwei, weil man ihr Geschlecht noch nicht kennt. Die Singvögel, um unterschieden werden zu können, tragen Ringe an den Beinen. Über jeden Vogel wird Tagebuch geführt. „Ein Ring links 36