Volltext Seite (XML)
Küstenstädten. An vielen Orten, an die ihn das Schicksal geführt hatte, war ihm ein Vögelchen erschienen, das sich auf sein Herz gesenkt hatte, aber so leicht und für so kurze Zeh, daß man es kaum fühlen konnte. Aber jetzt — jetzt halte er sie gefunden, in diesem alabasterfarbenen Cocknevkind. So war er glücklich und freute sich über sich selbst und die blausilberne Nacht und die grellen Lichter des Poplar Hippodroms. Langsam, leise stiegen sie die Treppen zu seinem Zimmer empor, und fast mit Ehrerbietung trat er ein und zog sie mit sich. Eine Wolkenhank jagte nach Osten, und der Vollmond warf ein scharfes Lichtschwert auf sie. Schweigen lag über Pennyfields. Wie ein Vögelchen sah sie an ihm empor — ihr Antlitz im Licht, ihre kleinen Händchen an seinem Piock — klammerte sich an, wun derte sich, hatte Vertrauen. Er nahm ihre Hand und küßte sie, wiederholte den Kuß auf Wange und Lippen, rankte seine Finger in ihr Ilaar. Gelehrig und mit dem Wider schein des Lächelns seiner Lippen in ihrem Gesicht — er erbebte vor Glück — gab sie ihm seine Küsse leidenschaftlich und innig zurück. Er zog den kleinen Vogel zu sich hin. Zerschlagen, betränt, mißhandelt, daß die Liebe zum Leben fast aus ihrem Herzen hinausgejagt war, so war sie zu ihm ge flattert in der dunklen, bösen Nacht. „Oh, liebe Lucia . . .“, und er legte sanft die Hand auf sie und streichelte sie und summte über ihr Haupt viel zarte Dinge in seiner blumigen Sprache. So standen sie im Mondlicht, während sie ihm von ihrem Vater erzählte, von den Schlägen, dem Hunger und dem Elend. „Oh, liebe Lucia, weiße Blüte ... zwölf ... zwölf Jahre alt.“ Wie er sprach, schlug die Glocke über den Milwall Docks zwölf dröhnende Schläge durch die Nacht. Als der letzte Widerhall erstarb, ging er zu einem Schrank und zog seltsame Dinge hervor, formlose blaue und goldene Massen, magische Seidendinge und ein Gefäß, welches sicher Alladins Lampe war, und ein Kästchen mit Gewürzen. Er nahm die Kleider, und mit zarten ehrfürchti gen Fingern entfernte er von seiner „wei ßen Blüte“ die beschmutzten Lumpen, die sie bedeckten, kleidete sie wiederum an und führte sie dann zu dem Haufen von Stoffen, der sein Bett war, und bettete sie sorgsam. Er selber legte sich platt auf den Boden vor dir und hielt ihre schlaffe, kleine Hand. Da kauerte er die ganze Nacht in dem poetischen Licht des Mondes, schlaflos, auf merksam; und süße Zufriedenheit zog in ihn ein. Es war eine unbequeme Stellung, und seine Muskeln schmerzten unerträglich. Aber er schlief nicht und wagte auch nicht, sich zu bewegen oder ihre Hand freizu geben, aus Furcht, sie zu wecken. Müde und vertrauensvoll schlief sie, in dem Be wußtsein, daß der gelbe Mann freundlich war und daß sie schlafen konnte, ohne fürchten zu müssen, daß eine Stahlhand den zarten Bau ihrer Träume zerstörte. Am Morgen, als sie erwachte, noch in blaue und gelbe Seide gekleidet, stieß sie einen Schrei des Erstaunens aus. Cheng war herumgelaufen, viele Male war er die zwei Treppen hinauf und hinunter geglitten, und nun endlich war sein Baum gerüstet für seine Prinzessin. Er war gefegt und ge schmückt, eine Wohnung, die wohl wert war eines Mädchens, das von einem Dichter prinzen geliebt wird. Da war ein Perlenvor hang. Da waren rosa und weiße Musseline, da gab es vier Schalen für Blumen, für helle, reine Blumen, um die „weiße Blüte“ zu beglücken und ihre Schönheit zu schmücken. Da war ein Gefäß mit Wasser und eine milde Salbe für die Wunden an ihrer Wange. Als sie sich erhoben halte, wartete ihr Prinz ihr auf mit Reis und Eiern und Tee. Gesäubert und schön gekleidet und ruhig saß sie vor ihm, ließ sich nieder am Rande der Kissen wie auf einem Thron — mit all der Grazie der kindlichen Prinzessin im Märchen. Sie war ein Gedicht, ihre Schön heit, die hinter dem vernachlässigten Acu- ßern und der Mattigkeit verborgen war, erschien nun heller und deutlicher; und vom 136