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BRIEF AUS DER PARK AVENUE L ieber Freund! New York ' November i 9is Wir sind ruiniert. Unten durch. Bankrott. Trotzdem wohnen wir noch immer in der Park Avenue. Es ist uns buchstäblich unmöglich, überzusiedeln. Ohne Bankreferenzen müßten wir anderswo zwei Monatsmieten im voraus bezahlen; dazu kämen noch die Kosten des Umzugs. So viel können wir einfach nicht zusammenscharren. So harren wir aus und sind dankbar für das Entgegenkommen des Hauseigentümers: halbe Miete monatlich bar bezahlen, die andere Hälfte in ungewisser Zukunft. Unsere Familie besteht nur aus den Eltern und mir: Papa bankrott, Mama aus allen Himmeln gestürzt, und ich, die Tochter, noch nicht näher katalogisiert. Wir gehören zur ersten der beiden Sorten Leute, die in der Park Avenue wohnen: den Pionieren, die seit zehn, zwanzig Jahren dort ansässig sind. Sorte zwei sind neureiche Neuankömmlinge. Auch heute gibt es noch zweierlei Park Avenueianer: die einen, die noch immer Geld haben, die ändern, die früher welches hatten und sich eines geduldigen Hausherrn erfreuen. Jetzt beginnt sich eine dritte Abart einzuschleichen: die Leute, die Geld haben, aber nicht jene gesellschaftlichen Referenzen, die früher einfach unerläßlich waren. Die Hausbesitzer nehmen sie mit offenen Armen auf. Wir auch. Wir finden sie viel unterhaltlicher als unsere ehemaligen Nachbarn, die vor lauter Familienstolz und Tradition steif wie Holz waren. Die zweite Wohnung auf unserm Flur gehört jetzt einer berühmten Tonfilmschauspielerin mit durchdringender Stimme und ausgedehntem Bekanntenkreis. Ein wahrer Strom von Besuchern geht bei ihr aus und ein; die ,,Große Parade“ nennen wir das. Aber sie und ihre Freunde wissen das Leben besser zu genießen als die früheren Mieter. Ich hoffe sehr, bald zu einer dieser Abendgesellschaften geladen zu werden, bei denen noch um zwei Uhr morgens gejodelt und Unfug getrieben wird. Eigent# lieh nehme ich schon jetzt daran teil: auch in der Park Avenue sind die Wände dünn. Ich bin jetzt fünfundzwanzig und kaum zu 'was anderm geeignet als Verlobungen und Ent# lobungen. Unglaublich, wie viele Familien in der Park Avenue mit ganz genau solchen Töchtern heimgesucht sind. Anfangs hielten wir die Depression für einen Hauptspaß und fuhren munter fort, bei ein paar noch wohlhabender Freunde zu borgen. Wir hatten noch Reserven, und Papa führte sein bankrottes Geschäft weiter. Aber bald entdeckte ich, daß die Reserven dahingeschmolzen waren und äugen# blicklich etwas geschehen mußte. Jemand mußte Geld für den Haushalt verdienen; augenscheinlich ich. Stolz verbot uns, das Familienhaupt etwas davon merken zu lassen; wir ließen ihn in dem Glauben, es seien noch Reserven da. Im Mai begann ich meine Rundreise durch die Stellenvermittlungsbüros. Im Juni konnte ich schon geläufig eine Art Refrain singen:,,Bitte, stoßen Sie sich nicht daran, daß ich in der Park Avenue wohne. Ich brauche trotzdem dringend einen Posten.“ Aber meine Kostüme waren noch immer allerletzte Mode, da sie aus einem Salon stammten, der den kommenden Stil vorweggenommen hatte. Die Büroleiterin nahm naserümpfend Notiz davon und sagte zu ihrer Sekretärin nichts als: ,,Die Nächste!“ Ich wußte, daß junge Mädchen mit Collegebildung auf dem Stellenmarkt keine Nachfrage haben. Nun entdeckte ich, daß auch der Typ ,,unerfahrenes Mädchen aus der Park Avenue“ nicht gefragt ist. Also war ich doppelt unerwünscht und fand keinen Posten. Eine Zeitlang lebten wir von unserer Vergangenheit, das heißt vom Verkauf unserer wertvollsten Stücke, seltene alte Bücher, Erstausgaben und dergleichen ermöglichten unsern Lebensunterhalt ür ein Jahr. Ein Gobelin und ein paar antike Stücke (von der Verpfändung des Familienschmucks a gesehn) half uns bis anfangs 1933. Dann nahmen wir eine kleinere Wohnung, fünf Zimmer, im selben Haus und hielten kein Personal mehr. Natürlich hatten wir die Dienerschaft schon beim ersten Krach entlassen. Sie waren einfach, ganz ohne Rührszenen, gegangen, mit einem kleinen Seufzer und der Hoffnung, daß wir sie bald wie er zurücknehmen würden. Weder Mama noch ich verstanden mehr, als weiche Eier zu kochen, nsere ersten Kochversuche verkohlten und wirkten giftmörderisch. Aber nur der engste Familien# wu te das. Nach außen bewahrten wir Haltung. Wenn ich einige junge Leute aus ehemals 558 Gegenüber: Zeitungskiosk am Abend (Phot. Paul Morand)