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Ein Maler und ein Schriftsteller. Der Maler: „Unfaßbar, daß sie einmal bemalt gewesen ist. Parischer Marmor, leicht aquarelliert, haha! Die Venus von Milo, geschminkt, mit rosa Bäckchen! ..." Schriftsteller: „Nein, wissen Sie, ich kann mir das vorstellen. Das ist wie beim Schreiben. Stil muß natürlich Marmor sein — aber Marmor, der gerade im Be* griffe steht zu erröten . . Wieder steht sie da, einfam im dunkelausgeschlagenen Eckzimmer des Louvre. Sie regt keinen Finger (sie hat ja bloß Armstümpfe) und erzeugt dennoch fort* laufend ästhetische Diskussionen sowie Tausende kleiner Gipskinder, die von glutäugigen Straßenverkäufern auf dem Kopf getragen werden. Berühmt ge* worden wie FFamlet, gibt sie täglich, außer Montags, Audienz von 9 bis 3. Hören wir zu: Es erscheinen Mr. Babbitt und Frau, das rote Büchel in der Hand. Beide ver* tiefen sich in den Baedeker und rufen a tempo: „Aoh . . . Venus of Milo . . .!“ Pause. Babbitt, mit einem scheuen Seitenblick auf seine Frau: „She’s great!" . . . (Ab.) Zwei junge Mädchen, Arm in Arm. Sie sind groß, kräftig, hübsch. Sprachlos bleiben sie stehen. Jetzt stößt eine die andere heimlich an: „Du, so schön sind wir auch . . .!" (Ab.) Ein Bildhauer und ein Schriftsteller. Zu* erst genieren sie sich, weil die Statue so bekannt ist. Der Bildhauer (nach einer Pause): „Sehen Sie, die Zeit — das ist der gewaltigste Kunst* kritiker aller Zeiten! Sie hat ihr die Arme wegkritisiert — das war es, waszur Voll* kommenheit noch fehlte. Ägyptische Sta* tuen brechen nie ab. Dieser Körper ward mit dem Stein erschaffen — er blieb; ihre Arme wurden gegen den Stein geschaffen — sie brachen ab." Schriftsteller (im Weggehen): „Aber die Nasen brechen ja doch auch ab . . ." (Ab.) Engen Ein Abbe. Er schreitet vorsichtig, wie auf fremdem Gebiet. Er denkt: „Als sie noch angebetet wurde, damals, wohnte ein Dämon in ihr. Das bezeugen die Kirchenväter. Dieser Dämon muß das Häßlichste gewesen sein: scheußlich wie ein strahlendes Auge, dessen Lider man blutigrot zurückklappt. Aber jetzt ist sie nichts als schön! Dennoch — könnte man sich vorstellen, daß diese fehlenden Arme das Jesuskind tragen? Welch eine Blasphemie . . . heilige Maria, hilf! . . . Aber man müßte das ganze Christentum an diesem Leibe ent* wickeln können." 553