Volltext Seite (XML)
noch in den Frühstückspausen durch ländliche Spiele und Schäfertänze anmutig unterhalten. Man legt sich mit den Hühnern schlafen, erhebt sich bei Sonnen» aufgang, trinkt nicht, raucht nicht, flucht nicht, ist egalweg sittsam und lebt nur der Gesundheit. „Paris bei Nacht“ — das war einmal! „Die Weiber, anstatt ihre Eitelkeit und Genußsucht noch höher zu treiben, haben ihren Verstand be» arbeitet und, statt des Reichtums, sich bemüht, reich an Bescheidenheit und Sanftmut zu werden.“ Und wie denn alles sehr vernünftig, sanft und gütig eingerichtet ist, so werden auch die Steuern gern und ohne Mahnung abgeliefert. An jeder Straßenkreuzung ist ein Kasten angebracht, und dorthinein werfen die Bürger ihr Scherflein, dessen Höhe sie gerecht und weise selbst bestimmen; Diebe, die das Geld entwenden könnten, gibt es nicht. Mit der Weltliteratur und mit den Schriftstellern springen die utopischen Pariser grausam um. Alle „unvernünftigen" Bücher aus der Nationalbibliothek sind verbrannt worden; der schäbige — und „vernünftige" — Rest hat in einem kleinen Zimmer Platz. Schriftsteller, die neuerdings „verderbliche“ Bücher schreiben, werden täglich von zwei „tugendhaften“ Bürgern heimgesucht, „die ihre falschen Grundsätze (die der Schriftsteller) mit Waffen der Sanftmut und Beredsamkeit bestreiten“. Inquisition, wo ist dein Stachel? Zeitungen erscheinen zwar, sie bringen aber nur „humane" und belehrende Artikel. „London: Diese Stadt ist dreimal größer, als sie im 18. Jahrhundert war ... Die Engländer sind immer noch das erste Volk der Erde . . . Die Schotten und Iren haben dem Parlament eine Bittschrift überreicht, damit man die Namen Schottland und Irland endlich abschaffen und sie nur einen Staat, sowohl dem Geiste als dem Namen nach, mit England ausmachen möchten.“ In Kunst und Mode bevorzugen die Franzosen des Jahres 2440 — wie könnte es auch anders sein? die konsequente „Neue Sachlichkeit“. „Der Stuhl, auf den ich mich setzte , so erzählt Herr Mercier, „war nicht von der Art von Stühlen, die mit Zeug überladen sind. In den Zimmern: „nichts Lackiertes, kein Porzellan, keine Püppchen, keine traurigen Vergoldungen.“ Familienleben und Geselligkeit, die sich in diesen reinen Räumen abspielen, sind ebenso geläutert, reibungslos und höchst moralisch. Ein Paradies der ab» und aufgeklärten Vernunft, aber anscheinend auch der schlimmsten Langeweile. Der Notenschreiber. Als Kaiser Josef eines Tages den unsterblichen Rous» seau besuchte, sah er, wie dieser eifrig Noten schrieb. „Wie, ein Mann, der so wertvolle Werke schreibt, gibt sich mit Notenschreiben ab?“ „Ach", erwiderte der Philosoph, „ich habe den Franzosen oft Gelegenheit zum Denken gegeben. Umsonst! Jetzt gebe ich ihnen Gelegenheit zum singen, und sie — singen.“ Gerechtigkeit. Als der unglückliche König von England, Karl I., auf Befehl des Parlaments ins Gefängnis geführt wurde, sagte er unterwegs zu seinen Beglei» tern. „Ich glaube niemanden von meinen Handlungen Rechenschaft ablegen zu müssen, als Gott allein."— „Unsere Absicht ist es gerade“, entgegnete einer der Richter, „Sie zu ihm zu schicken, damit Sie ihm Rechenschaft geben können." 2 551