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PARIS IM JAHRE 2440 Von HEINZ LUEDECKE A lle Zukunftsromane von Jules Verne bis H. G. Wells leben und sterben von l den sogenannten Wundern der Technik, und der Haupttrick unserer Film* Utopisten ist die Apotheose der Verkehrsmaschinen. Transozeanische Schienen* zepps, Unterwasserlimousinen, Atomzertrümmerungsfahrräder und Stratosphären* tanks verstehen sich am Rande einer kolossalen Überzivilisation, die vier*, fünf* oder sechsdimensional gedacht wird; jeder Bürger hat sein eignes Do X im Topfe und sieht den Wald vor lauter Fernsehapparaten nicht. Diese Art von metro* politanischen Zwangsvorstellungen ist so gewöhnlich und alltäglich geworden, daß sie uns kaum noch hinter dem Ofen einer wärmeren Realität hervorlocken kann. Gibt es keinen Zukunftsträumer, der uns die moderne Zukunftsgroßstadt einmal gänzlich anders ausmalt 1 Der längst vergessene Pariser Literat Louis Sebastien Mercier hat im Jahre 1771 einen utopischen Roman ,,Das Jahr 2440 “ veröffentlicht. Dieses seltsame Buch, das allerlei revolutionäre Gedanken enthält, war im 18. Jahrhundert sensations* umwittert und brachte es auf etwa iy Ausgaben in verschiedenen Sprachen. Manche Obrigkeiten hielten es für so gefährlich, daß sie, wie der Bischof von Salamanca, ihre Leser mit dem Bannstrahle bedrohten, und die spanische Regierung verfügte 1778: „Wisset, daß man angefangen hat, in unsere königlichen Staaten ein Buch einzuführen, von Oktavformat, in französischer Sprache geschrieben und betitelt: Das Jahr 2440; daß die Idee des gottlosen Schriftstellers darin besteht, einen Traum zu erdichten, und daß er davon erwacht zu Paris im Jahre 2440 und den Zustand beschreibt, in welchem er sich den Hof von Paris, die französische Monarchie, Europa und Amerika vorstellt . . .; daß man öffentlich durch Henkers Hand alle Exemplare, die sich finden lassen, verbrennen muß . . . etc/” Auch die französische Polizei des ancien regime beschäftigte sich wiederholt mit Merciers „Traum", und 1781 mußte der Verfasser nach der Schweiz entfliehen. Merciers Zukunftsmetropole ist geräuschlos und idyllisch. Die Pariser des Jahres 2440 haben Zeit und Seelenruhe; so häßliche Worte wie „Unfallstatistik" oder „time is money“ sind ihnen wesensfremd. Sie bewegen sich gemächlichen Schrittes auf schnurgeraden Avenuen und haben sämtliche Verkehrsmittel radikal abgeschafft. „Ich sah", versichert uns der Autor, „nicht mehr den lächerlichen und beleidigenden Anblick von tausend Karossen." Nur ein paar hundert Wagen sind übriggeblieben, und „diese gehören alten Magistratspersonen oder Leuten, die sich durch ihre Dienste hervorgetan haben und von der Last des Alters ge* krümmt sind; ihnen allein ist es erlaubt, langsam auf dem Pflaster zu fahren". Trotzdem stehen allerorts verkehrsregelnde Beamte: „in jeder Gasse eine Wache, die über die öffentliche Ordnung wacht; sie leitet den Gang der Wagen und der lasttragenden Menschen ..." „Das Tagewerk in diesem utopischen Paris — „ist mäßig, und sobald es beendet ist, nimmt die Freude ih^en Anfang." Die Arbeiter werden außerdem 550 Gegenüber: New York, Zentralbahnhof. Phot. Leigh (Mauritius)