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A.J.Cronin: Der Tyrann und Drei Lieben. Romane. Paul Zsolnay Verlag. Die Zeit um 1880 scheint für die jungen englischen Erzähler eine besondere Anziehungskraft zu haben. Ebenso wie z. B. der neue Charles Morgan lebt Cronin in dieser Epoche, ohne eine Spur des Retrospektiven, des Historischen, als einem sehr speziell zeitlich und englisch gefärbten und doch zeitlos gegen wärtigem Raum. Cronin ist ein in englischer Tradition gut fundierter, ab 3 r darum doch nicht allzu häufiger Fall — der echte starke Erzähler, der nichts will als eine Sache erzählen, und zwar alles, was er von ihr weiß. Da gibt es keine perspektivische Verkürzung, keinen wissenden psychologischen Aufriß, keine Projektion der eigenen Wallung, da gibt es aber auch keine raschen und falschen Effekte, da ist ein solider quadriger Bau, und ein geduldiges Rundherumgehen, bis wir alles gesehen haben: wie eine Person lebt, wie sie schläft, ißt, liebt, handelt, räsoniert und stirbt. Und dadurch sind seine Gestalten, die sich vor uns ausbreitend wachsen und in die wir, wie im Leben selbst, bedächtig mit hineinwachsen, so unbeirrbar echt, so ganz, so unwider ruflich wie Naturprodukte. Der Epiker zeigt sich darin, daß er und wie er — man lächle nicht über diese äußerliche Auffassung — nicht nur starke, sondern dicke Bücher schreibt. Der Umfang im Verhältnis zum Geschehen und zu der ganz verborgenen, ja unbewußt scheinenden, aber starken geistigen Triebkraft diktiert ein Tempo von ungeheurer Langsamkeit, die etwas Elementares hat, ja schließlich ganz fortreißt. Gestalten wie der gewaltige Huthändler James Brodie und sein tyrannisches, vernichtendes Leben, wie die kleine Lucy, die ihre vergebliche Liebe zu Mann, Sohn und Gott trägt, sind von unvergeßlicher Eindringlichkeit, aber auch die geringste aus der reichen Fülle der Figuren hat noch etwas von dieser pragmatischen Gültigkeit und lebt voll aus. Daneben entschwindet einem die Handlung, obzwar ja nichts anderes da ist als Handlung, aber die ist natürlich, selbstverständlich, freilich stellenweise in überraschend khscheehafter Weise vorwärtsgetrieben. Cronin ist ein großer Menschendarsteller, im Eigentlichen ein großer Dramatiker mit undramatischen Mitteln, der seinen Leser behutsam, aber um so sicherer auf eine w'eite epische Fahrt mitnimmt. E. S. Heinrich Hauser: Noch nicht. S. Fischer Verlag. Wenn ein Autor zwei sehr schöne Bücher einer bestimmten Gattung ge schrieben hat (Die letzten Segelschiffe, Feldwege nach Chicago), bekommt er plötzlich einen leichten Überdruß vor dem. was er geleistet hat und was ihm leicht fällt. Er beschließt, eine Stufe höher zu steigen. Sein reiches Talent, seine ungewöhnliche sprachhche Begabung und seine dichterischen Visionen erleichtern ihm den Versuch. Tausend Möglichkeiten jagt er nach, um das „Neue“ zu zwingen. Es gelingen ihm wundervolle Einzelheiten, es gehngen ihm Schilderungen der einfachsten Begebnisse, die so sicher in der Schwebe gehalten sind, daß man diesem Dichter eine neue Darstellungsform für den Roman zutraut. Trotzdem verläßt ihn das Gefühl nicht, daß sein Versuch zu viel „Wollen“ in sich trägt, daß das Buch nur zu etwas Abgeschlossenem werden kann — auch vor ihm — indem er aus der Not eine Tugend macht: „geplant war ohne Zweifel ein Roman“, schreibt er in seiner Vorrede. Diesen Roman läßt er zu Aufzeichnungen eines Dritten werden, wodurch er selbst ein Teil der Verantwortung loswird. Das Zufällige des Buches wird zur Gesetz mäßigkeit eines erfundenen Dritten erhoben, und schließlich bekommt es mit einem energischen „Nun gerade" einen Titel, der den Autor vor sich und ändern entschuldigen möchte: „Noch nicht". — Es ist ein typisches Zwischen werk, vom Autor selbst nicht leichten Herzens ans Licht gelassen. Es ist ein großes Versprechen für die Zukunft, wenn es ihm gelingt, das große und schöne Material, das in ihm liegt, fester zu gestalten. „Noch nicht" sind lauter — sehr bedeutsame -— Notizzettel zu einem Roman. Es sei von Hauser keineswegs eine photographisch exakte Schilderung von Personen und „natürlich" auf- 436