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Der Herr mit dem Privatzirkus Molier ist tot. Molier war ein Ka valier (in des Wortes doppelter Be deutung: cavalier heißt Reiter) und er hatte in seinem ganzen Leben nur eine Passion: die Ausübung der ritterlichen und reiterlichen Künste. Am i. Juli 1933 stieg der Vierund- achtzigjährige, den niemand einen Greis zu nennen gewagt hätte, in den Sattel und ritt in seine Manege ein — genau so aufrecht und elegant wie am 21. März 1880, als er der Welt von Paris seinen Amateurzirkus zum erstenmal vorführte. Der Prinz von Sagan mit seinem sagenhaften Mo nokel präsidierte dieser ersten Produk tion. Und von da an wiederholte sich dreiundfünfzig Jahre lang, einmal, höchstens zweimal im Jahr dasselbe Schauspiel: vor den Toren seines Hauses in der rue Benouville drängte sich die Pariser Eleganz in Festklei dung, um bei dem großen Ereignis an wesend zu sein, das ebenso wichtig war wie der Grand Prix, aber durch aus exklusiv. Der Zirkus war viel zu klein, obwohl nur Auserwählte an wesend sein durften, und Vicomtessen vom Faubourg saßen neben Mitglie dern des Instituts mit untergeschla genen Beinen am Rande der Manege. Clowns, Tänzerinnen, Dompteusen, Parterre- und Trapezakrobaten waren Leute der Gesellschaft, Amateure, die sich Molier allmählich herangezogen und erzogen hatte. Sicher war seine Zeit die zirkus freundlichste, die es je gegeben hatte. In einem seiner Bücher (er hat natürlich nur über Equistik und Hohe Schule geschrieben) erzählt er, welcher Augenblick in ihm die unauslöschliche Vorliebe für das Kunstreiten er weckte: es war in Mans, in seiner Ge burtsstadt, an einem Markttag, als der große Bothours, der Kunstreiter und Gründer des „Cirque Bothours“, auf der Place des Halles sich produzierte. Und er fügt hinzu: „. . . und wenn ich hundert Jahre alt würde, könnte ich seine schöne Darbietung nie ver gessen“. Molier war der Sohn eines sehr reichen Mannes und hatte nichts anderes zu tun, als das Leben eines reichen Sohnes zu leben. Und so baute er sich 1879 sein Haus in der rue Benouville, mit Stall, Fechtsaal, Ma nege, hielt die herrlichsten Pferde, freundete sich mit anderen großen Reitern an, wie Victor Fanconi, Fillis, und lebte fortan nur seinem einzigen Vergnügen. Professionelle Zirkusleute kamen zu ihm, „studier ten“ bei ihm, und führten seine Schule fort. Es war, bei aller Mühe, ein Kavaliersleben: früh Ausritt ins Bois, dann Arbeit, Arbeit — bis zum Tode. Und daß auch seine Frau Reiterin sein mußte, ist nur selbstverständlich. Molier hat seine Zeit nicht halten können. Aber er hat eines zustande gebracht, das nicht weniger schwer ist: er hat — allein — die Tradition seiner vergangenen Zeit aufrechterhalten, ohne irgendwie der Einsamkeit oder Lächerlichkeit zu verfallen, ohne auch nur im geringsten zu verkitschen. Im Gegenteil: Paris liebte und ehrte ihn, weil er bis zu seinem Tode der Typus des Reiterkavaliers geblieben war, der Mann der noblen Passion; das, was der Snob nie werden kann, auch wenn er viel reicher ist. Selbstverständlich hatte Molier alle Berühmtheiten der Welt gekannt und wußte stundenlang von ihnen die schönsten Anekdoten zu erzählen. Als einen seiner besten Mitarbeiter rühmte er einen wunderbaren Amateurakro baten und -clown, Strebly, der über fünfzig Jahre lang, auch noch als Greis, die schwierigsten Nummern auf Sesselpyramiden ausgeführt hatte. Ein mal fragte man Molier nach dem bür gerlichen Beruf seines Wundermannes: Strehly war Professor der Philosophie.