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Gerade oder Ungerade Wenn einer zu wissen glaubt, was er will, so weiß er noch lange nicht, was er wirklich will. Oder: bewußtes und unbewußtes Wollen sind nicht identisch, wobei von der Anschauung ausgegangen wird, daß das unbewußte Wollen das wirkliche genannt zu wer den verdient und sich auch wirklich auf eine ausdrückbare Formel reduzieren läßt. Wie viele Menschen sind unglück lich trotz glücklicher Erfüllung ihrer Wahl, da sie in Wahrheit nicht wissen, was sie wirklich wollen, ob sie blond vorziehen oder schwarz, ob sie edel mütig sein wollen oder rachsüchtig, ob ihnen erstrebenswert ist, als Helden oder als Philosophen durchs Leben zu ziehen. Da sie nicht wissen, was sie wirklich wollen, wissen sie auch nicht, was sie wollen sollen. Wie kommt aber doch in häufigen Fällen eine scheinbare Übereinstim mung zwischen bewußtem und unbe wußtem Wollen zustande? Warum sind nicht alle Menschen ganz so unglück lich, wie der moderne Psychologe in seiner raffinierten Einfalt so gerne an zunehmen sich gedrängt fühlt? Nun, ganz einfach: durch einen doppelten, sich selbst aufhebenden Irrtum, der sich zwischen das bewußte und das un bewußte Wollen einschiebt, oder, noch genauer ausgedrückt, in allen jenen Fällen, wo es sich nur um zwei Ent scheidungen, zum Beispiel um Ja oder Nein handelt, durch eine gerade An zahl einer beliebig großen Menge von Irrtümern. Wenn sich unser bewußtes Wollen nur in einem einfachen Irrtum über unser unbewußtes, das heißt wirkliches Wollen befände, würden wir bewußt einfach das Gegenteil von dem wün schen, was der Gegenstand unseres un bewußten Wunsches ist. Wir würden das, was wir wollen, in Wirklichkeit nicht wollen. Wenn wir aber noch einen Fehler dazu machen und auch das Resultat unseres ersten Irrtums falsch sehen, ist unser bewußtes Wollen plötzlich wieder scheinbar identisch mit unserem unbewußten Wollen. Schwarz, sagt unser innerstes Ich. Blond, erwidert eine mittlere Schicht, die, durch ganz tiefe Sündenerinnerun gen abgestoßen, Schwarz nicht gelten lassen will. Und das ganz äußere Ich, das auch die mit Blond zusammenhän genden Wunschregungen noch verab scheut, tippt wieder auf Schwarz. Siehe da, ein harmonischer Mensch, der weiß, was er will, steht vor uns. Der wirk lich schwarz wünscht, wünscht wirklich wieder schwarz. Es ist natürlich eine Illusion, anzu nehmen, daß zwischen unserem bewuß ten und unserem unbewußten Wollen nicht immer eine lange Reihe solcher gegeneinander wirkender Irrtümer vor liege, und so ist es schließlich der Zu fall, ob die Zahl dieser Irrtümer gerade oder ungerade ist, von dem es abhängt, ob wir im Resultat unser Wollen in der Richtung oder gegen die Rich tung unseres Unbewußten festlegen. Linkische Menschen sind im Zeichen einer ungeraden Zahl von Irrtümern geboren. Was für das eigene Unbe wußte gilt, gilt auch für die Gegen stände der Außenwelt. Gute Kritiker fällen aus einer geraden Anzahl von Irrtümern richtige Urteile. Gustav Grüner Die Kritiker haben ein Anrecht auf Nachsicht; denn sie sprechen immer von ändern, und niemand spricht von ihnen. Genealogie. Er war über seine Genealogie genau unterrichtet, kannte seine Ahnen aus dem ff.; nur was seinen Vater betraf, war er nicht sicher. Jules Renard Ich für meine Person habe gelernt, viel zu vergessen, und damit zu rech nen, daß mir viel verziehen werde. Bismarck in einem Gästebuch in Baden-Baden 424