Volltext Seite (XML)
Interview mit einem amerikanischen Reporter Von Christian Rath „Wie wird man in Amerika Reporter?“ „Da gibt es zwei Wege. Entweder man wird zuerst ,Copy Boy". Das ist der Volontär, der die Kopien der Berichte zum Redakteur bringt und so auch allmählich lernt, wie man Reporter wird. Die andere Möglichkeit, die seit vier bis fünf Jahren besteht, ist der Besuch der Joumalistenschule an irgendeiner Universität. Da lernen die Jungens Kurzgeschichten schreiben, Berichte über Feuer und Mord machen usw. Schließlich gibt’s ein Examen, und dann werden sie auf die Zeitungen losgelassen.“ „Wie stehen die amerikanischen Behördenstellen zum Reporter?“ „Na, großartig. Was sollen sie auch machen? Neulich hat sich mal der Oberbürgermeister von New York, O’Brien, bei einer großen New-Yorker Zeitung über die mangelhafte Wieder gabe seiner Rede beschwert. Darauf wurde zu der nächsten Ansprache des Oberbürgermeisters ein Stenograph geschickt, der vom Anfang bis zum Ende jedes Wort, aber auch jedes Räuspern, Husten, jedes Versprechen, jede Nebenbemerkung des Redners aufnahm. Dieser Bericht wurde dann unredigiert in großer Aufmachung veröffentlicht. Im Motto zu dem Bericht war der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß der Oberbürgermeister jetzt zufrieden sein möge. Und er war es. — Einmal habe ich eine Telefonreportage gemacht. Es waren Beschwerden gekommen, daß ein Mister Rose im Rathaus so selten zu sprechen war. Daraufhin habe ich ihn von neun Uhr früh bis Büroschluß stündlich angerufen. — ,Mister Rose ist im Augenblick nicht da." — .Mister Rose ist mal gerade aus dem Zimmer.“ — .Mister Rose ist in einer wichtigen Kon ferenz.“ — .Mister Rose ist eine halbe Stunde aus dem Haus.“ — .Mister Rose diktiert jetzt.“ Und immer so weiter. Das habe ich dann am nächsten Tage veröffentlicht, und es war eine nette Überraschung, für das Rathaus und für die Leser.“ „Sind die amerikanischen Reporter viel in den Straßen unterwegs?“ „Sie sind überhaupt nur unterwegs. In den Redaktionen erscheinen sie nur, um ihre Sachen zu schreiben — sie schreiben rasend schnell Maschine, denn Sekretärinnen gibt es nicht —, im übrigen schlendern sie herum, fragen die Polizeibeamten aus — jeder Reporter hat .seinen Polizisten, der nur ihm die großen Dinge mitteilt —, warten im Polizeihauptquartier, bis etwas kommt. Einmal hatte sich bei dem langen Warten ein Polizeireporter heimlich etwas sehr betrunken. Da tönte die große Glocke, die im Reporterzimmer anzeigt, daß etwas los ist; der Junge stürzte ans Telefon und bekam zu hören, daß in der X-Straße Nr. 206 ein Wolkenkratzer in Flammen steht. In seinem Suff rast er ans andere Telefon und gibt die Nachricht an sein Blatt weiter. Nach kurzer Zeit kommt eine Rückfrage seiner Zeitung, ob der Reporter vielleicht zufällig geisteskrank geworden sei. Der Wolkenkratzer X-Straße Nr. 206 war nämlich das Haus der Zeitung. Das war so ein netter kleiner Kollegenscherz. Sonst aber sind die Boys untereinander sehr kollegial und hilfsbereit. Wenn einer mal etwas Dringendes vor hat, dann gibt der andere seinen Bericht mit für ihn durch oder so. Bei großen Sachen hört die Freundschaft allerdings auf. Da kommt es schon vor, daß ein Reporter die Kabel aller Telefone durchschneidet, bis auf das, mit dem er spricht, damit die anderen zu spät kommen.““ „Wird in Amerika immer noch soviel interviewt?“ „Ja. Das Interview ist immer noch die Hauptarbeit des amerikanischen Reporters. Wenn irgendwo jemand ermordet ist, dann macht sieb ein halbes Dutzend der Jungens auf die Beine. 415