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Vom Betragen auf Reisen Von Albrecht Fürst v. Urach, Graf v. Württemberg \Y/ arUm * 3eträgt man S1C * 1 au ^ ^ elsen anders als gewöhnlich? Warum bietet der Mann, der W tagaus tagein im Autobus faul hinter seiner Zeitung sitzt und alle Damen seelenruhig stehenläßt, im Expreß einer Schönen seinen Platz an, die schon drei Plätze besetzt? Warum wird der friedliche Familienvater zu einem kämpfenden Löwen, wenn er für Frau, drei Babies, Kindermädchen, Hund, Kanarienvogel und Berge von Gepäck Platz finden soll? Reisen ver ändert die Nerven, den Ausblick der Menschen, die nicht an tägliches Reisen gewöhnt sind wie die Geschäftsreisenden. Reisen hat trotz allen technischen Errungenschaften den Nerven kitzel des Abenteuers. Natürlich ist der Begriff einer Reise sehr verschieden. Es gibt Leute, die genagelte Schuhe, Rucksack, Kochapparat, Biwakzelt und Kompaß mitnehmen, um von Berlin nach Spandau zu reisen. Andere fliegen mit Aktentasche und Melone bis Teheran. Die Grundidee des Reisens ist die des Vagabunden: Ich bin ein Fremder, morgen bin ich wieder über alle Berge, es ist daher ganz gleichgültig, was ich tue und wie ich mich betrage. Aber es gibt Aufenthaltsorte, die nur für Reisende da sind. Ganze Hotelstädte hat man für sie gebaut. Da ist es gefährlich, sich die allzu große Wurschtigkeit des Durchreisenden anzugewöhnen. Denn an diesen Orten trifft man mit unfehlbarer Regelmäßigkeit immer wieder dieselben Leute. Es wird noch immer mit der Bahn gereist. Diese Fortbewegungsart hat ihre Vorteile. Pünkthchkeitshebende können ihrer Entrüstung mit Berufung auf den amtlichen Fahrplan Luft machen, fn den hundert Eisenbahnjahren hat sich eine Routine des Betragens in der Eisenbahn eingebürgert. Wenn ich höflich frage: Darf ich das Fenster öffnen? — meldet sich seit Erfindung des Dampfrosses immer noch jemand, der gegen Zugluft protestiert. Will ich meinen Willen haben, dann ist es besser, gar nicht erst zu fragen. Auch die zögernde Aus kunft, ein Platz sei vielleicht noch frei, wartet man am besten gar nicht ab. Warum immer seine Mitmenschen schonen? Sie schonen einen ja auch nicht. In Spanien geht die Höflichkeit so weit, daß in der ersten Klasse niemand sein Jausenpapier entfaltet, seine Zigarettendose öffnet, ohne den Mitreisenden, die er gar nicht kennt, davon anzubieten. Man hat mit derselben Höflichkeit abzulehnen, in der dritten Klasse aber mit derselben Höflichkeit anzunehmen. Überhaupt, erste und dritte Klasse. In der dritten Klasse wird man immer Leute finden, die sich verpflichtet fühlen, den Mitreisenden zu verstehen zu geben, daß sie von Rechts wegen in der ersten Klasse reisen müßten. Sie tun das entweder durch stumme, würdevolle Verachtung ihrer Umgebung oder durch gnädige Herablassung und Leutseligkeit. In der ersten Klasse und auch im Speisewagen findet man die Leute, die glauben, sie müßten sich dieser ehren vollen Beförderungsweise entsprechend pomphaft benehmen. Am seltensten findet man vollkommene Nervenruhe. Reisefieber äußert sich in irgend einer Form. Manche glauben, die Mitreisenden damit anstecken zu müssen, schon bei der Abfahrt, und erst recht bei der Ankunft. Wenige können die willkommene Gelegenheit, mit ändern für einige Zeit in einem kleinen Raum zu sitzen, vorübergehen lassen, ohne diese über alle die Details aufzuklären, die sie nachher in die Anmeldezettel des Hotels schreiben. Meist fügen sie noch überstandene und bevorstehende Krankheiten dazu. Abfahrt und Ankunft geben endgültiges Zeugnis über das Betragen der Reisenden. Warum soll sich der Zurückbleibende nach herzlichem Abschiednehmen beschämt umsehen, ob man ihn beobachtet hat? Schämt er sich seiner, der Öffentlichkeit gezeigten Gefühle? Was gehen ihn die ändern an? Natürlich ist ihm eine reservierte Natur überlegen. Doch wer weiß, ob Reserviertheit nicht eine mühsam getragene Maske ist? Auch am Reiseziel, m der Sommer- 412