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Aus meiner Kindheit Von Benito Mussolini J ch erinnere mich meiner Großmutter Marianna Ghetti noch ganz deutlich; sie war eine große dürre Frau und fortwährend in Bewegung. Sie hatte eine Manie, am Fluß entlang zu gehen und alles Treibholz aufzulesen, das auf dem Uferkies angeschwemmt wurde nadi den Flochwassern, die zusammen mit den schweren sommerlichen Gewittern Ereignisse in unsern gleichförmi gen Tagen bildeten; eine andere ihrer Gewohnheiten war es, sich nie mit uns zusammen zu Tisch zu setzen, um die sehr einfachen Mahlzeiten zu verzehren, die die ganze Woche über aus einer Gemüsesuppe zu Mittag und Feldrettichen des Abends bestanden, und die wir alle aus der gemeinsamen Schüssel aßen. Sonntags gabs ein Pfund Hammelfleisch zur Suppe, die dauernd abgeschäumt werden mußte. Eine ständig im Dialekt eingeflochtene Redensart meiner Großmutter hieß ungefähr: Verfluchte Todsünde! Sie liebte uns sehr, und wir ärgerten sie gründlich. Eines Tages in jenem fernen September waren meine Mutter und wir drei Kinder in unsern Weinberg in Camerone gegangen, der Cuclon ge nannt, den man uns für neun Jahre verpachtet hatte. Er war nicht groß und trug nicht mehr als eine Karre voll Trauben, das heißt sechzehn Zentner, aber es standen dort außerdem noch drei Feigenbäume, von denen einer besonders süße Früchte hatte. Um sidi in unsern Weinberg zu begeben, stieg man von Yarano aus einen steilen Pfad aufwärts durch die Weinberge von Filippone und Giuliana, dann kam man an dem Bauernhof von Casola vorbei, mit dem großen Wachhund, vor dem wir immer in Angst waren, weshalb wir uns schon einen Kilometer vorher die Taschen voll Kieselsteine steckten; endlich, an der Kehre von Camerone bot sich unsern Blicken die Ebene der Romagna, die drei Türme von Forli und, cveiter hinaus, der blaue Saum des Meeres zwischen Cervia und Casenatico. Dies leuchtend geweitete Panorama erfreute meine Augen und ließ vor meinem Geist schöne Träume aufsteigen. Am Nachmittag des 25. September 1896, den w T ir im Weinberg Cuclon ver brachten. waren wdr — w T ir wußten selbst nicht warum — trüber Stimmung. Wir saßen mit unserer Mutter zusammen und sangen alte Lieder, deren eines sagte: Der Schwerter stokes Blitzen Weckt Throne auf und Völker. Ins Feld, Ihr Italiener, Euch ruft das Vaterland! Ich w T eiß auch heute, nach 57 Jahren, noch nicht, von wem diese Verse sind. Die Mutter sagte uns, die Soldaten hätten sie 59 und 66 gesungen. Bei Sonnenuntergang stiegen wir wieder nach Yarano hinab und erreichten es erst nach Einbruch der Dunkelheit. An der Haustür kam uns Bettina Scaino entgegen und sagte: „Der Marianna geht’s sehr schlecht!“ Wir stürzten alle die Treppe hinauf und fanden die Großmutter in den letzten Zügen. Es war zu Ende. Das Begräbnis war sehr bescheiden. Es war damals Brauch, die Frauen, die am Begräbnis teilnahmen, durch ein kleines Geldgeschenk zu ent schädigen: zehn Soldi oder eine Lira. Mein Bruder Arnaldo und ich wurden auf das Gut von Piola, jenseits des Flusses, geschickt, das die Tante Francesca bewirtschaftete. Unsere kleine Reise begleitete das Trauergeläut der Toten glocke von San Cassiano. Es war ein klarer, stiller Sonnenmorgen; alle Wein berge waren schon gelb, und vor den Häusern standen die Kufen und Fässer zur Lese bereit. Die Glocke tönte w'eithin durch das Schweigen des Tals vcnd