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fangen wissen, weil sie in Hinsicht auf Reinheit, Schönheit und Vornehmheit übersensibel sind. Jedoch diese Menschen sind viel seltener, als man glaubt, und man würde gut tun, immer erst sehr genau und lange nachzuprüfen, ehe man einen Menschen in diese Ehrenklasse einreiht. Überhaupt: wenn man die Begriffe Realist und Idealist richtig faßt, so decken sie sich, wenn man sie falsch faßt, so fallen sie auseinander und können im Munde eines vernünftigen Menschen nur Schimpfworte bedeuten. Die Menschheit ist niemals realistisch oder idealistisch: sie ist immer beides zugleich. Bisweilen scheint es, als habe die eine Richtung die andre dauernd verdrängt; aber als geheime Unterströmung besteht diese doch fort. Der Realismus ist die Kraft, die das Leben auf eine höhere Stufe hebt, und der Idealismus ist die Kraft, die dem Leben einen tieferen Sinn gibt. Der Realismus macht das Leben möglich, der Idealismus macht das Leben erträglich. Und die Natur hat die merkwürdige und wunderbare Fähigkeit, diese beiden Kräfte in stetem Gleichgewicht zu halten und immer die eine gegen die andre auszuspielen. Die ganze Natur ist durch und durch idealistisch, und sie gestattet nicht, daß irgend jemand ohne Schaden sich dem widersetzt. Sie hat das — vielleicht grausame Gesetz, daß sie nur idealistischen Bestrebungen dauernden Erfolg verleiht. Sie ist darin ganz unerbittlich. Der Idealist bringt scheinbar lauter Opfer, und scheinbar lauter überflüssige, während flache und rohe Lebensmenschen eine Zeitlang auf seine Kosten leben. Vielleicht leidet er auch in der Summe weit mehr, als er genießt. Aber er ist der Lebensfähigste. Die ändern gehen früher oder später am Leben zugrunde: eben weil sie es um jeden Preis beherrschen wollten und daher unmerklich in seine strudelnden Kreise gerieten, während der Idealist an seinen Idealen, diesen scheinbaren Blendern und Schädigern, einen lebenerhaltenden Motor hat. Seine Ideale lassen ihn nicht sterben. Sie sind sein Lebensgeist, seine „Pneuma“. Fast alle Idealisten sind langlebig. Jeder Mensch lebt so lange, als er etwas zu tun hat. Wir können uns nicht denken, daß Bismarck vor dem Jahre 1871 hätte sterben können. Aber das gilt nicht bloß von den Großen, es gilt auch von den Kleinen. Was für Bismarck die Idee der deutschen Einheit ist, das kann für einen ändern ein Blumengarten, ein geliebter Mensch oder eine Taubstummenschule sein. Ideale sind bessere Lebenselixiere als alle Tinkturen, Kurorte und Pro fessorenkonzilien der Welt. Idealismus ist das Geheimnis der Macht über die Dinge, denn nur durch Idealismus sind wir imstande, in das Innere der Dinge einzudringen. Der nüchterne Eigennutz hat keinerlei Zugänge zu den Mysterien der umgebenden Welt. Idealismus ist eine präformierte Charakteranlage, eine bestimmte Geistesform, die sich weder künstlich erzeugen noch anlernen läßt. Idealist ist man, oder man ist es nicht: der Idealist wird geboren. Daher können die Bösen und die Guten niemals Zu sammenkommen, denn sie sind in der Wurzel geschieden. ★ Wer aber sind die Bösen ? Sie sind schwer zu charakterisieren, denn sie haben eigentlich nur negative Eigenschaften. Sie sind die Ungenialen, die Menschen ohne Dichterkeim, die Nichtidealisten, die Unpoetischen. Sie sind unsicher. Sie haben stets ein heimliches, tastendes Wesen, als ob sie etwas zu verbergen und zu vertuschen hätten. Sie sind von der Natur abgefallen, und da sie dies dunkel fühlen, so haben sie fortwährend ein schlechtes Gewissen. Sie sind immer in Fechterstellung. Das kleinste Geräusch erschreckt sie. Sie suchen zwar zu- 382