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mir: „Das ist unser Anfängerkursus, kommen Sie, wir wollen uns auf das Podium setzen und den kleinen Herrschaften Zusehen, um einmal festzustellen, wieviel sie gelernt haben.“ Wir setzten uns auf den Fußboden des Podiums. Unterdessen hatten sich die Karrees gebildet, und die Musik begann mit dem ersten Lancier, den die kleinen Damen und Herren fehlerlos austanzten. Der Tanzmeister sagte vom Podium aus mit erhobener Stimme die Touren an, und die Kinder führten den Tanz mit großer Aufmerksamkeit und Grazie aus. Die Verbeugungen der Herren und die Plongeons der Damen, regelrechte Hofknixe, konnten gar nicht tief genug sein. Herr Ford kannte fast jedes Kind beim Namen. Es waren meistens Kinder seiner Arbeiter und Angestellten. Er beobachtete die Paare mit fachmännischem Blick und machte seine Bemerkungen zu den Leistungen der einzelnen. Schließlich konnte ich mich aber doch nicht mehr halten und platzte mit den Worten Herrn Ford ins Gesicht: „Aber Mr. Ford, ich dachte, Sie beschäftigten sich mit dem Bau von Automobilen, was hat denn dieses alles damit zu tun?“ „Ja, mein Lieber“, entgegnete er mit verschmitztem Zwinkern seiner stahl grauen Augen, „diese Erziehungsarbeit an der jungen Generation liegt mir min destens ebensosehr am Herzen wie meine Automobile. Ich weiß sehr wohl, daß man uns Amerikanern vorwirft, wir hätten schlechte Manieren, oder gar keine. Auf diese Weise, wie Sie es hier vor sich haben, kann man den Menschen spielend gute Umgangsformen beibringen und gleichzeitig ihren Sinn für das Schöne wecken. Dieser Unterricht wird Tausenden von Kindern erteüt, natürlich kostenlos. Die Bewerberliste ist so groß, daß wir nur einen Teil unterrichten können. Wir haben sogar Kurse für taube und blinde Kinder. Ein paarmal im Jahr haben wir Tanz konkurrenzen, und wir haben bisher ausgezeichnete Erfolge erzielt. . . Für mich persönlich stellen die alten Tänze eine Lieblingsbeschäftigung dar. Übrigens haben wir am kommenden Freitag einen Tanzabend, es wäre doch sehr nett, wenn Sie auch kämen. Sie lassen sich von meinem Tanzmeister etwas eintrainieren, und dann stelle ich Sie meiner Frau als neuen Tanzpartner vor, das wird ihr be stimmt Freude machen.“ Damit erhob sich der alte Herr von seinem harten Sitz auf dem Fußboden, schüttelte mir herzlich die Hand und überließ mich meinen etwas durcheinander geratenen Gedanken inmitten der tanzenden Kinderschar. Halb betäubt von der Eigenartigkeit und Stärke der Persönlichkeit, die noch vor wenigen Sekunden neben mir auf dem Fußboden gesessen hatte, versuchte ich ein Fazit unter diese erste Begegnung mit Henry Ford zu ziehen. Abgesehen von der schmeichelnden Be friedigung, daß Ford mir so viel seiner wertvollen Zeit geschenkt hatte, war ich im höchsten Maße angenehm enttäuscht. Wenn man jemandem das Prädikat „menschlich“ zusprechen will, so verdiente es dieser Mann in der Potenz. Von der Kälte und Berechnung eines rücksichtslosen Industriekapitäns und Arbeiter- ausnützers, wie ihn oft unsere Presse darstellt, war aber auch nicht das Geringste zu spüren. Während des mehrstündigen Zusammenseins hatte Ford zwar über seine Arbeiter gesprochen, sein Werk aber nicht mit einem einzigen Wort erwähnt. Er sprach von allem anderen, aber nur nicht von den Dingen, durch die er in die Reihe der welthistorischen Persönlichkeiten getreten war. Diese Bescheidenheit war keine Pose, sondern mußte als vollkommen aufrichtig empfunden werden. Wenn ich den Eindruck, den ich von Henry Ford an jenem Tage erhielt, in wenige Worte fassen wollte, so müßte ich sagen, daß ich im alten Ford einen Mann kennen lernte, der vor allem Mensch sein will und über das, was er darstellt und geschaffen hat, als Selbstverständlichkeit zur Tagesordnung übergeht. Dieses einfache 378