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was uns am sichersten festgestellt scheint): man müßte, wenn man z. B. die Realität der „telepathischen Manifestationen“ bezweifelt, nachdem tausende von über einstimmenden Aussagen darüber gesammelt worden sind, das Zeugnis von Menschen ganz allgemein als nicht-existent in den Augen der Wissenschaft be zeichnen; aber was wird dann aus der Geschichte werden? In Wirklichkeit gilt es, unter den von der psychischen Wissenschaft dargebotenen Resultaten ein e Auswahl zu treffen; sie selbst ist weit davon entfernt, sie alle auf eine Stufe zu stellen; sie unterscheidet zwischen dem, was ihr gewiß scheint und dem, was nur wahrschein lich oder höchstens möglich ist. Aber selbst wenn man nur einen Teil von dem bei behält, was sie als gewiß hinstellt, so bleibt noch genug, um uns die ungeheure Größe der terra incognita ahnen zu lassen, deren Erforschung sie eben erst beginnt. Nehmen wir an, ein Strahl dieser unbekannten Welt käme zu uns, sichtbar für das körperliche Auge. Welche Umwälzung für eine Menschheit, die gewohnt war — was sie auch sage —, nur das als vorhanden zu betrachten, was sie sieht und was sie berührt! Die Erkenntnis, die wir auf diese Weise bekämen, würde vielleicht nur das Untergeordnete in den Seelen betreffen, den letzten Grad der Geistigkeit. Aber mehr wäre nicht nötig, um einen Jenseitsglauben zu lebendiger und tätiger Realität zu bringen, der zwar anscheinend bei den meisten Menschen anzutreffen ist, aber meistens ein Lippenbekenntnis, etwas Abstraktes und Unwirksames bleibt. Um zu merken, wieviel er gilt, braucht man nur zu beobachten, wie sehr man sich auf Vergnügungen stürzt; man würde nicht so viel Wert darauf legen, sähe man darin nicht etwas dem Nichts Abgerungenes, ein Mittel, den Tod zu verspotten. In Wahrheit könnten wir, wenn wir des Fortlebens sicher, absolut sicher wären, gar nicht mehr an etwas anderes denken. Die Vergnügungen würden weiter bestehen, aber matt und farblos sein, denn ihre Intensität bestand nur in der Aufmerksamkeit, die wir ihnen zuwandten. Sie würden verblassen, wie das Licht unserer Ampeln in der Morgensonne. Das Vergnügen würde überstrahlt werden von der Freude. Freude wäre in der Tat die Einfachheit des Lebens, die durch eine weitver breitete mystische Intuition in der Welt fortgepflanzt würde, Freude wäre auch die Einfachheit, die in einer geweiteten wissenschaftlichen Erfahrung automatisch einer Jenseitsvision folgen würde. Mangels einer so vollständigen sittlichen Reform wird man zu Notbehelfen greifen müssen, man wird sich einer immer heftigeren staatlichen „Reglementierung“ unterwerfen und, eins nach dem ändern, die Hindernisse abtragen müssen, die unsere Natur gegen unsere Kultur aufrichtet. Aber ob man sich nun für die großen Mittel entscheidet oder für die kleinen — eine Entscheidung drängt sich auf. Die Menschheit seufzt, halb erdrückt, unter der Last der Fortschritte, die sie gemacht hat. Sie weiß nicht genug, daß ihre Zukunft von ihr selbst abhängt. Es ist an ihr, zunächst zu entscheiden, ob sie weiterleben will, an ihr sich weiter zu fragen, ob sie nur leben oder außerdem noch die nötige Anstrengung leisten will, damit sich auch auf unserem widerspenstigen Planeten die wesentliche Aufgabe des Weltalls erfülle, das dazu da ist, Götter hervorzu- bringen. (Aus einem demnächst erscheinenden, neuen Euch Der doppelte Ursprung der hthik und der Religion, übertragen von Prof. Eugen Lerch)