Volltext Seite (XML)
Wie wird man Yoghi? Von S. Kabboor E twas über mein bewegtes Leben zu sagen, fällt mir schwer, da ich als Asiate — und es ist mein Stolz, Asiate zu sein — mit anderen Augen die Welt anschaue, als es die Europäer tun. Als ganz junger Mensch besaß ich schon einen tiefen Hang zur Religion. Ich wollte mich ausschließlich den göttlichen Dingen widmen und trat als Zögling in ein Mönchskloster, das auf einem Felsblock an den Hängen des Himalaya-Gebirges erbaut ist. Das Leben eines solchen Klosters ist für einen Europäer unvorstellbar; ich könnte es vielleicht nur mit dem Mönchsleben des Mittelalters zur Zeit des heiligen Franz von Assisi vergleichen. Die Zöglinge werden sehr streng gehalten, aber diese Strenge hat mit Zwang nichts zu tun, sie wird vielmehr mit unendlicher Güte gehandhabt. An der Spitze der Kloster gemeinschaft steht ein heiliger Mann, der Sadu, ein Vater und Führer aller Insassen. Er lehrt die Zöglinge, bedürfnislos zu leben, den Wünschen des Körpers zu widerstehen, ihr Seelenleben zu vertiefen, um jene Gipfel zu erreichen, auf denen der indische Mönch ethisch steht. Je stiller die Forderungen des Körpers werden, um so größere Aussicht besteht, daß der werdende Mönch die innere Stimme , die Stimme seiner Seele vernimmt. Eines Tages, unter Umständen nach Jahren, meldet sich diese Stimme, erst zaghaft, dann immer lauter, und erteilt ihre Befehle. Wer die innere Stimme gehört hat und sie auch versteht, hat bereits seinen Körper vollständig in der Gewalt und vermag Dinge zu verbringen, die dem Laien wie Wunder Vorkommen. In Wirklichkeit gibt es aber keine Wunder, besser gesagt: das ganze Leben ist nichts als eine Verkettung von Wundern, und diese Wunder werden immer prächtiger, je öfter sich das Leben des Individuums in veränderter Gestalt erneuert. * Ich erlaube mir, hier auf ein Beispiel zu verweisen, das den Europäer in Staunen versetzen wird, obwohl, mit den Augen des Eingeweihten gesehen, darin nichts Wunderliches zu erblicken ist. Nach Jahren der klösterlichen Ein samkeit bemächtigt sich des Mönches oft eine unwiderstehliche Sehnsucht, seine Angehörigen wiederzusehen, mit ihnen zu sprechen. Der Mönch wendet sich an den Sadu und teilt ihm seinen Herzenswunsch mit. Das Kloster physisch zu ver lassen, wäre aber mit den Vorschriften des Ordens unvereinbar. Es geschieht daher folgendes: Der Sadu führt den Mönch in seine einfache Zelle und ersucht ihn, sich auf sein Lager zu legen. Er nimmt seine Hand, seine Finger gleiten langsam über die Stirn des Liegenden, er schläfert ihn ein. Und einige Sekunden später tritt die Seele des schlafenden Yoghi die Wanderung an, er erscheint in einer Entfernung von Tausenden Kilometern im Kreise seiner Familie. Aber glauben Sie nicht, daß nur der Schlafende die Vorstellung hat, bei den An gehörigen zu weilen. Nein, auch die sehen ihn, sprechen mit ihm, essen und trinken mit ihm. Dann nimmt er Abschied und kehrt zurück. Noch zur Zeit, als ich im Mönchskloster auf dem Himalaya lebte, ereignete sich in Indien folgende Begebenheit: In einem fahrenden Eisenbahnzug fand der 852