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Wirklichkeit und tiberwirklichkeit Von C. G. Ju ng V on einer Überwirklichkeit weiß ich nichts. Wirklichkeit enthält alles, was man wissen kann, denn wirklich ist, was wirkt. Wirkt es nicht, so merkt man nichts und kann daher auch gar nicht darum wissen. Ich kann daher nur über wirkliche Dinge etwas aussagen, nichts aber über überwirkliche oder unwirkliche oder unter wirkliche. Es sei denn, daß es irgend jemand einfalle, den Begriff der Wirklichkeit irgendwie einzuschränken, so daß nur einem bestimmten Ausschnitt der Welt wirklichkeit das Attribut „Wirklich“ zukäme. Die Denkweise des sogenannten gesunden Menschenverstandes und des gewöhnlichen Sprachgebrauches erzeugt diese Beschränkung auf die sogenannte materielle oder konkrete Wirklichkeit der sinnenfälligen Gegenstände nach dem berühmten Satz: Nihil est in intellectu quod non anteafuerit in sensu, dies ganz unbeschadet der Tatsache, daß eine ganze Menge im Verstände ist, was nicht aus den Daten der Sinne herrührt. In diesem Sinne ist alles „wirklich“, was direkt oder indirekt der durch die Sinne erschließbaren Welt entstammt oder wenigstens zu entstammen scheint. Diese Beschränkung des Weltbildes entspricht der Einseitigkeit des abend ländischen Menschen, mit der man öfters zu Unrecht den griechischen Geist be lastet. Die Einschränkung auf materielle Wirklichkeit schneidet aus dem Welt ganzen ein zwar ungemessen großes, aber eben doch nur ein Stück heraus und erzeugt damit ein dunkles Gebiet, welches man unwirklich oder überwirklich nennen müßte. Das östliche Weltbild kennt diesen beschränkten Rahmen nicht, weshalb es auch keiner phüosophischen Überwirklichkeit bedarf. Unsere will kürlich abgezirkelte Wirklichkeit ist beständig von „Übersinnlichem“, „Über natürlichem“, „Übermenschlichem“ und dergleichen mehr bedroht. Die östliche Wirklichkeit schließt dies alles selbstverständlich ein. Die Störungszone beginnt bei uns schon mit dem Begriff des Psychischen. In unserer „Wirklichkeit“ kann das Psychische gar nichts anderes sein als Wirkung dritter Hand, von physischen Ursachen ursprünglich hervorgebracht, ein „Gehirnsekret“, oder ähnlich Schmackhaftes. Dabei wird diesem Anhängsel der Stoffwelt zugetraut, daß es sich selbst überspringen und nicht nur die Geheimnisse der physischen Welt, sondern auch noch in der Form von „Geist“ sich selber erkennen könne, all dies, ohne daß ihm eine andere als eine indirekte Wirklichkeit zugestanden wird. Ist ein Gedanke „wirklich“ ? Doch wohl nur insofern, als — nach dieser Denk weise — er auf ein sinnenfällig Reales bezogen ist. Ist er es nicht, so gilt er als „unreal“, „unwirklich“, „phantastisch“ usw. und damit wird er als nicht existent abgelehnt. Das geschieht praktisch unaufhörlich, trotzdem es eine philosophische Ungeheuerlichkeit ist. Der Gedanke war und ist, obschon er sich auf keine tastbare Wirklichkeit bezieht, er wirkt sogar, sonst hätte ihn ja niemand gewußt. Weil aber das Wörtchen „ist“ für unsere Denkweise auf ein materielles Sein anspielt, so muß sich der „unreale“ Gedanke mit der dunkeln Existenz in einer Überwirklich- 844