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Ziegfeld Von Gilbert Seldes r ist ohne Vergangenheit. In den, ihm von der Natur gesetzten, Krisen seines Lebens — wenn er ein neues Werk vorbereitet — hat Florenz Zieg feld keine Vergangenheit, er lebt in seiner alles umfassenden Gegenwart von Girls und Farben, von Lichtern, Kostümen, Szenen. Im Hintergrund seines Wesens steckt ein Kabarettist, ein Mann des Sketchs; doch verscheucht er diesen immer wieder gleich einer lästigen Mücke. Hätte Ziegfeld eine Vergangen heit und ein Gedächtnis, so müßte er sich der zahllosen Humoristen und Gro tesken seines Oeuvre in den langen Jahren erinnern. Doch der Mann lebt nur in der Gegenwart. Und diese Gegenwart: das sind immer wieder die Girls dieser einen Aufführung und ihr Bekleidungsproblem. Er selbst hat keine Ahnung davon, daß jetzt schon drei Generationen des Publikums seine „Follies“ geistvoll und witzig finden. Er selbst sieht sie nur als Girl-Revuen. Umdrängt von tausend Ansprüchen auf seine Zeit, auf seine Kraft, verschwendet er eine halbe Stunde auf das Zurechtrücken einer Rosette am Kostüm einer Choristin; die zwei Minuten für die Hauptsache hat er dann nicht übrig. Er blieb stets unberührt. von dem Spott gegen seine „Verherrlichung“ des amerikanischen Girls. „To glorify“ — verherrlichen etwa, feierlich unterstreichen, berühmt machen — heißt im Ziegfeldjargon soviel wie: in die Schar aufnehmen. Man schreibt: „She was glorified in 1921“, „she was not glorified since 1924“. Den Ausdruck wendet man ganz naiv ohne jede Ironie an. Woher diese Bedeutung kommt, ist unbekannt. Im Jahre 1914 sagte Ziegfeld (angeblich): „Die Frauen erhöhen ihre Toiletten („women glorify gowns“), Kleider können wiederum einen Mädchentyp „erhöhen“. Der Satz, vermutlich vom Inter viewer herrührend, entspricht ganz Ziegfelds eigenen Zielen. Ein anderes Wort — vom Mißerfolg seiner „Mademoiselle Napoleon“ geboren, seinem einzigen Mißerfolg, der ihn aber auch hundertfünfzigtausend Dollars gekostet hat — sieht weniger nach Pressemache aus, ist aber gleich bezeichnend: „Es ge schieht mir schon recht“, sagte er damals, „warum wollte ich auch ein Kunst werk hervorbringen!“ Es ist nicht leicht, durch 38 Jahre seiner Öffentlichkeit zu dem heutigen Ziegfeld hindurchzudri'ngen. Übrigens ist keine der zahllosen Behauptungen, Sätze und Erörterungen über Bühnenkunst, die von Ziegfeld handeln, falsch in bezug auf seine Persönlichkeit. Natürlich geht das Pathos immer auf Ziegfelds Reklamewillen zurück, aber das ist auch wiederum bezeichnend. Die erste Fest stellung (enthalten in „Who’s Who“ und in den meisten Biographien und Anekdoten) besagt, daß er der Sohn des Dr. Florenz Ziegfeld ist, Gründers des Chicago Musical College (in jenen künstlerisch dunklen Tagen nach dem amerika nischen Bürgerkrieg), der immerhin sechs- bis siebentausend Musikschüler zu sammenbrachte. Der Papa war noch Mitgründer des Theodore-Thomas- Orchesters, auch brachte er, als guter Deutscher, den Komponisten der „Schönen 614