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Diamanten in Antwerpen Von Nico Rost H at jede Straße die Buchläden, die sie verdient? Jedenfalls gibt es keine Straße, die interessantere und internationalere Buchhandlungen hat als die Rue du Pelican (Pelikaanstraat) in Antwerpen. Keine Erinnerungen von Feld herren oder Staatsmännern, kein Ewers oder Rudolf Herzog verderben hier das Schaufenster, und nur selten bemerkt man einen Emil Ludwig oder Dekobra. Überall die Werke von Joyce und Proust, von Upton Sinclair und Scholem Asch, von Herzl und Lenin, von Marx und Buber. Hier liegt die letzte „Weltbühne“, ebensogut wie der letzte „New Masses“, und sogar die „Fackel“ fehlt nicht. Welcher Art sind die Leute, die in dieser Kleinstadt mit dem Welthandelsstadt getue, in dieser Stadt von Häfen, Bordellen und „Frites“ ein Interesse für diese Bücher haben? Woher kommen sie und was treiben sie? Zumeist sind es polnische Juden, die vor ungefähr fünfzig Jahren ihren Einzug hielten in das neue gelobte Land. Sie waren, wie alle Ostjuden, auf dem Wege nach Amerika, wurden aber vom Glanz der Diamanten angezogen und blieben. Blieben gleich neben dem Bahnhof, wo sie ausgestiegen waren. Hier ist die Rue du Pelican. Später, als Antwerpen das Weltzentrum des Diamanthandels wurde, haben sie als gute Juden ihre Brüder, Neffen und Enkelkinder nachkommen lassen. Direkt in die Pelicanstraße, und zwar ohne den Hintergedanken: Amerika. Überall sieht der Fremde, der nach der Pelicanstraße gekommen ist, um etwas über den Diamanthandel zu erfahren, Ghettogestalten in langen Kaftanen und ihre Söhne in amerikanischer Kleidung. Restaurants mit hebräischer Inschrift („Ko scher, Streng koscher“) und kleine Kaffeehäuser, wo mehr gehandelt wird als getrunken. Auch hinter den Scheiben sieht er sie sitzen, gestikulierend, oder ab seits durch ihre Lupen winzige Päckchen studierend, die vor ihnen auf dem Kaffee tisch liegen. Und manchmal mit einem Band Proust in der Rocktasche. Einige trinken Tee ohne Zucker, ohne Milch, die meisten aber nichts, und trotkdem erlaubt ihnen der Wirt den Aufenthalt, denn auch er ist am Handel beteiligt. Sein Cafe ist nicht nur ein Cafe. Es ist auch eine Börse. Ungefähr in der Mitte der Rue du Pelican bemerkt der Fremde einen hohen Renaissancebau, vor dessen Tor es zugeht wie in einem aufgescheuchten Ameisen haufen. Das Gebäude mitsamt dem Ameisenhaufen davor ist „de Beurs voor Diamanthandel“. Antwerpen hat vier offizielle Diamantbörsen mit Selbst verwaltung und eigenen Arbitrage-Commissionen, die zusammengeschlossen in eine „Federation des Bourses Diamantaires Beiges“ 18 000 Arbeiter beschäftigen (Cleaver, Säger, Schneider und Schleifer), Milliarden Umsätze machen und mit ihrem Bedarf eine halbe Großstadt ernähren. Die „Beurs voor Diamanthandel“ ist von diesen vier (und demnach auf der ganzen Welt) die größte. Ein Portier, der alle 2000 Mitglieder kennt, bemerkt sofort den Fremden, der unbemerkt hineinzugehen versucht. Er begleitet ihn zum Sekretariat. Erst jetzt, nachdem der Unberufene die schriftliche Erlaubnis 600