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Das Schlieferl Von Victor Wittner E s bildet ein Talent sich in der Stille (Wien), sich ein Charakter in dem Strom der Welt (Berlin). In Wien bilden sich auch unübertreffliche Worte zur Charakteristik der in Berlin reifenden Charaktere aus. Warum sollte sich Berlin gegen die Aufnahme solcher Begriffe in seine Sprache sperren, da es sich doch die von ihnen Begriffenen gefallen läßt? Der Kurfürstendamm, auf dem es zu allen Stunden des Tages flaniert, hat bereits das „Schlieferl“ in Umlauf gesetzt, obschon es nicht leicht auszusprechen ist: Man muß auf dem i so lange verweilen, daß auch das e hörbar wird — dann erst kommt die onomatopoetische Schleifung zustande, die den Charakter des Namensträgers ausdrückt. Was ist ein Schlieferl? Wenn das Wort übersetzbar wäre, würde es im wort kräftigen Berlin seine Währung verloren haben und durch ein anderes ersetzt worden sein: denn grade die Wiener lieben brandenburgische Ausdrücke und Redewendungen, ja, man kann sagen, daß viele Österreicher sich gleich als solche dadurch kenntlichmachen, daß sie mit einem „Kommtnichinfrage“ oder „Menschmeckernich“ ihren Standort betonen. Die Berliner aber sprechen längst einen österreichischen Slang . . . Was ist ein Schlieferl? Schliefen bedeutet (im Wiener Dialekt) soviel wie: Schlüpfen. Ein Schlieferl müßte also, wörtlich übersetzt, ein Schlüpferl sein. Einer, der wie der Wind durch alle Lücken und Ritzen dringt; und der infolge dieser Behendigkeit überall anzutreffen ist, also auch dort, wo er nichts zu suchen hat. Gerade dort. Denn seinen angemessenen Platz zu besetzen, müßte er nicht ein Schlüpferl sein. Vermöge seiner angeborenen Behendigkeit und Leichtigkeit im Schlüpfen dringt er durch alle Neben- und Hintertüren, durch Fenster und Kamine in Orte ein, die ihm versperrt wären, wenn er zum Portal hereinkommen wollte. Ebenso aber schlüpft er durch das Netz der Intrigen, durch die Maschen des Gesetzes, ja, durch jedes Nadelöhr, vor dem ein Kamel noch zaudert. Hierzulande nannte man solche Schlüpferl, noch vor der Inflation, Windhunde. Damit sind auch seine positiven Eigenschaften angedeutet: Schnelligkeit und Spürsinn. Ferner aber auch das Gegenteil von Zuverlässigkeit. Die zuverlässigste Charakteristik des Schlieferls ist in der Tat seine Unzuverlässigkeit. Er ist durch lässig, wie die Ritze, die ihn durchläßt, er ist anschmiegsam und porös wie ein Schwamm. Wie ein Schwamm saugt er die Wasser auf, die vom „Strom der Welt“ abfließen, und gibt sie wieder von sich bei jeder nützlichen Gelegenheit. Somit kann man auch sagen, daß er mit allen Wassern gewaschen ist. Das Schlieferl ist jeder Situation gewachsen und gewaschen. Er ist nie verlegen, weil er grundsätzlich verlogen ist. Er schämt sich nie. Reue kennt er nur als eine ele gantere Wendung für Reugeld. Gewissen ist nur das Attribut eines Herrn Unbe kannt, z. B. eines gewissen Schopenhauer. Er ist nämlich so ungebildet, daß er in guten Stunden gradezu damit auftrumpft. Es ist freilich ein Rekord an Unbildung, über den er sich ausweisen kann. Denn selbstverständlich unterhält er nur Be ziehungen zur „Wirklichkeit“. Welche ist die Wirklichkeit des Schlieferls? Sie ist die Geldgeltung des Mannes,