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Konventionalstrafe verboten, die Brust zu entblößen, deren Fülle sie unter glitzernden Busenschonern mehr oder minder mühsam verbergen. Die Republik, die in alle Schichten und Gewerbe des Volkes die Fackel der Freiheit hinein getragen hat, wollte ursprünglich die Artistinnen der Kabaretts vom monarchi schen Zwange, Höschen zu tragen, befreien. Aber sie kam von dieser Absicht, welche der Begeisterung des ersten Moments entsprungen war, wieder ab und bewahrte so den spanischen Tingeltangels die unantastbare Unschuld, durch welche sich diese Zufluchtsstätte aller gemessenen Gefühle von jeher auszeichnete. Es gibt auf der weiten Welt nichts Sittlicheres und Ehrbareres als ein spanisches Nachtkabarett. Wie ehrbar es ist, merkt man an nichts besser als daran, daß eine säugende Mutter nicht hingeht. Sie wäre das Unsittlichste im ganzen Raum. Durch das Hereinbrechen der Freiheit über Spanien ist zwar nicht die Liebe oder der Geschlechtsverkehr freier geworden, auch nicht die Denkweise über diese Nachtseite des Lebens, wohl aber die Phantasie über die Denkweise über den Geschlechtsverkehr. Dutzende von galanten und erotischen Blättchen sind in den letzten Monaten aus der Erde geschossen. Sie sind so billig wie Tages zeitungen, da sie ausschließlich von Amateuren gemacht werden, Banklehrlingen, Gepäckträgern, Hühneraugenoperateuren, die sich mit der Ehre, ihren Namen gedruckt zu sehen, für hinreichend bezahlt halten. Das ganze spanische Volk arbeitet an diesen Zeitschriften, an „Don Casto“ zum Beispiel („Herr Keusch“), die beliebteste unter ihnen. Da sehen Sie eine Frau in Abendtoilette und darunter steht: „Was wohl würde der Leser sagen, wenn der Rock dieser Dame kürzer, oder ihr Brustausschnitt länger wäre?“ — Ein Kinostar im Ballkleid: „Ein Glück, lieber Leser, — nicht wahr? — daß dieser vollendete Körper, welcher dem an spruchvollsten Maler zum Modell dienen könnte, nicht im Badetrikot vor dir steht!“ — „Was würdest du mit diesem hinreißenden jungen Mädchen machen, wenn sie aus Fleisch und Blut wäre und du dich allein mit ihr in einem Zimmer befändest, das eine Chaiselongue hat?“ — Unter einer nackten Gestalt: „Hättest du gedacht, daß du heute noch so etwas zu sehen bekämst, als du der Dame im Jackenkleid nachgingst?“ — In diese Blättchen sieht man die Kinder ihr Vesper brot einwickeln; an ihren Illustrationen üben sich die Knaben im Nachzeichnen und die Soldaten lernen in ihnen lesen. Auflagen, die kein Remarque sich träumen ließe, täglich neue Ausgaben, überall erhältlich. Demgegenüber gibt es in Spanien eine Publikation, welche unter den obszön sten Verhältnissen verkauft wird, die denkbar sind. Seit mehr als dreißig Jahren ziehen um die erste Abendstunde, kurz nach Einbruch der Dämmerung, drei bärtige Männer durch die Cafes von Madrid, auf den leisen schleichenden Sohlen von Alpargatas, ein mäßig großes, dunkles Säckchen unterm Arm. Der Mann schlängelt sich lautlos von Tisch zu Tisch, bleibt an jedem bei dem Herrn stehen, der ihm den vertrauenswürdigsten Eindruck macht, und flüstert ihm etwas ins Ohr, während er zaghaft ein kleines dickliches Buch vorzeigt. Er spricht, wie man im Berlin der Inflation murmelte: „Koks, Herr Doktor. Wirkliches Nacht lokal, Herr Doktor.“ Was spricht er? Um es zu begreifen, muß man wissen, daß es in Spanien nur den Katechismus gibt und daß alle Kenntnis über ihn hinaus versündigt. „Die Bibel, mein Herr“, zischelt der Mann mit dem Säckchen. „Die unverkürzte Bibel, ein hochinteressantes Buch. Und sehr billig, mein Herr . . .“ 757