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Jahren gelang es ihr, ihn in einem Absteigequartier aufzufinden. Sie brachte ihn zu sich, sorgte für ihn; bei ihr ist er dann auch gestorben. Als Erbschaft hinterließ er ihr seinen Paß: Sarah Bernhardt war nun griechische Staatsbürgerin. Und während des Krieges verweigerte man ihr als „feindlicher Ausländerin“ das Visum. Poincare selbst mußte den betreffenden Behörden klarmachen, daß man Sarah Bernhardt nicht als Griechin betrachten dürfe. Sie wurde nicht sofort berühmt und hatte es auch nicht leicht. Zu Beginn ihrer Bühnenlaufbahn war es Francois Sarcey, der bedeutendste Theaterkritiker seiner Zeit und später ihr glühender Verehrer, der in einem Aufsatz mit Bedauern ausrief: „Warum läßt man in der Comedie Frangaise solche unbedeutende Schauspiele rinnen auftreten, wie Fräulein Sarah Bernhardt, aus der doch nie etwas Gescheites werden wird.“ Dann kam plötzlich die laute, allzu laute Berühmtheit, die vielen mißfiel. Charles Naquet sagte auf dem Sterbebett zu Alexandre Dumas: „Eigentlich bin ich froh, daß ich sterbe, wenigstens werde ich nichts mehr von Sarah Bern hardt hören . . .“ Dafür wurde sie in den letzten Jahren ihres Lebens von einem wahren Kult umgeben. Natürlich spielte hier auch ihr Alter eine gewisse Rolle. In England genügt es, daß ein Mensch vierzig oder fünfzig Jahre berühmt ist, um, fast unab hängig von der Berühmtheit, die Bezeichnung eines „lieben, alten. . .“ zu erhalten. In Frankreich ist es nicht ganz so. Aber die Feinde Sarah Bernhardts waren längst verstummt oder tot. Und sie hatte sich große Verdienste um die französische Kultur erworben. Seinerzeit fiel es aber Briand nicht leicht, für sie das Band der Ehrenlegion zu erwirken: heute erscheint es unverständlich; so haben sich die Sitten und das Verhältnis zu den Schauspielern geändert. Während des Krieges traf sie ein großes Unglück: nach einer langwierigen, qualvollen Krankheit mußte man ihr ein Bein amputieren. Das erzeugte einen Ausbruch von Mitgefühl und Sympathie für die alte Frau. Man dachte, daß sie nun in den Ruhestand treten würde. Aber Sarah Bernhardt verließ die Bühne nicht. Moderne Dramatiker, Sacha Guitry, der Sohn eines Menschen, den sie als den größten ihr bekannten Schauspieler schätzte, und Louis Verneuil, der Mann ihrer Enkelin, schrieben Stücke für sie, in denen sie sitzend spielen konnte. Mit diesen Stücken reiste sie nach Amerika, Kanada, England, Spanien. Sie erzielte noch volle Häuser. In Massen kamen die Menschen, um dieses Wunder der Energie, diese lebendige Legende, zu sehen. Sie war die Verkörperung des Alters. Manchmal war es schrecklich, sie anzusehen. Nach der Vorstellung schob man sie im Rollstuhl vor, und von der Bühne lächelte die Pique-Dame ihr berühmtes Lächeln, vom rasenden Beifall des Publikums begrüßt. Ich glaube: alle fühlten, daß sie die letzte Künstlerin von Weltbedeutung war und daß mit ihr eine große Epoche der Theaterkunst zu Ende ging. Im März 1923 erkrankte sie. Und wie so oft, wurde schon nach dem ersten Bulletin der Ärzte klar, daß sie sich nicht mehr erholen würde. Das machte einen starken Eindruck auf Paris. Vor dem Tode bat sie, den mit weißem Atlas aus gepolsterten Sarg in Ordnung zu bringen. Dann verfiel sie der Bewußtlosigkeit. In ihren Fieberphantasien deklamierte sie den Monolog aus „Phädra“. Sie starb am Abend des 25. März. Eine Million Menschen begleitete sie auf den Friedhof. (Deutsch von Woldemar Klein) 750