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die beiden tödlichen Zangenkiefer Amerika und Rußland benannt. Und die Klügsten unter ihnen stellten die Identität dieser beißenden Gegensätze fest. Die Vereinigten Staaten und die vereinigten Sowjetrepubliken sind identisch in ihrem radikalen Realismus. Die einen haben die Marxische Dogmatik streng russisch orthodoxer Färbung. Rufen wir uns ihren obersten Grundsatz kurz ins Gedächtnis: Der Mensch als Einzel- und Gruppenwesen ist ein Produkt der ökonomischen Dynamik. Das, was die vorwissenschaftliche Welt „Seele“ nannte, bedeutet nur den psychologischen Überbau dieser Dynamik. Das innere Leben des Menschen ist völlig determiniert, ein Abfallprodukt sozusagen des wirt schaftlichen Chemismus. Und die bolschewistische Lehre von den letzten Dingen, die offizielle Sowjet-Eschatologie? Gelingt es dereinst der menschlichen Organi sation, die anarchischen Erdkräfte, mithin auch die Wirtschaftskräfte zu bändigen, wird in der „klassenlosen Gesellschaftsordnung“ eine (chiliastisch-messianische) Stabilisierung des Seelenlebens eintreten. Zugunsten des Massenbewußtseins wird der individuelle Affekt- und Willensinhalt herabgeschraubt sein wie eine Lampe, wodurch der bestmögliche irdische Glückszustand gewährleistet ist. (Leidvernichtung durch Kollektivität, ein fernöstlicher Zug.) Amerika besitzt demgegenüber keine offizielle Dogmatik, es hat jedoch den Behaviorismus. Dieses nicht minder seltsame als abscheuliche Wort bedeutet eine psychologische Lehre, die drüben immer mehr Anhänger gewinnt und die, einem weisen Amerika reisenden zufolge, ein unschätzbares Symbol transatlantischer Geistesverfassung ist. Erkennt Sigmund Freud als echter Nachfahre Schopenhauers und Wagners noch zwei allgewaltige Triebdämonen an, denen der innere Mensch tragisch unterworfen sei, Tod und Liebe, so ist für Doktor Watson, den Vater des sym pathischen Wortwürmchens Behaviorismus, der innere Mensch überhaupt nur mehr ein Hampelmann. An den Fäden von Funktionen und Reaktionen pariert diese mittelmäßige Marionette, und jeder Esel kann die Schnüre der Pädagogik ziehen, um das gewünschte Muster herzustellen. Auch hier die kollektivistische Sehnsucht nach dem menschlichen Fertigfabrikat. Im übrigen soll in den Ver einigten Staaten die kollektive Massendisziplin unbewußt schon herrschen. Jeder mann trägt den gleichen Hut und dieselbe Meinung. Darüber will und darf ich mich aber keines Urteils vermessen. Ich stehe noch vor einer Expedition nach Amerika • und bin daher auf die Reisebeschreibung der vorhandenen J ules Vernes angewiesen. Es gehört aber heute nicht zu unserem Vorsatz, uns über Amerika oder Ruß land den Kopf zu zerbrechen, über Wert und Unwert politischer Theorien oder Daseinsformen. Wenn ich diese gewalügen Neuwelten erwähne, so nur als die Exponenten des radikal-realistischen Lebensgefühls, dem sich kein anderes modernes Land heute entziehen kann. Was an der amerikanischen oder bolsche wistischen Form und Gesinnung gigantisch verzerrt erscheint, durchdringt, wenn auch als abgeschwächte Überzeugung, den modernen Deutschen, Eng länder, Franzosen und Italiener, mag er in seiner Vordergründigkeit auch der verstockteste Erzreaktionär sein. Das Wort Realismus blickt auf eine lange Geschichte zurück. Schon in der Scholastik des Mittelalters spielt es eine Rolle. Die großen Ketzer Waldus, Wicleff, Hus waren Realisten im Gegensatz zu den Nominalisten der Orthodoxie. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts gewinnt es seine allgemeinste Bedeutung