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Paul Lasker-Schüler Der Unfug der Kindermärchen Von Friedrich K arinthy D u bist erst drei Jahre alt, mein Kind, das Leben ist dir noch ein Spielgefilde. Du kannst noch von allen Zweigen Blüten pflücken, nicht du wirst bestraft mit zehn Pengö, weil du die Pflanzen beschädigst, sondern ich. Du kennst noch nicht das schreckliche Leben, das lauter Sünde, Gosse und Schmutz ist. Dir ist das Leben ein glücklicher Feentraum, eine selige Welt der Märchen, was anzudeuten ich oben schon die Ehre hatte. Eben höre ich, wie deine Mutter dir Märchen er* zählt. Oh, hör nur auf dieses Märchen und glaube, daß das Leben ein solches Märchen ist, das Leben, das für mich ein grausamer Zola* Roman bedeutet, chaotisch, voll brutaler Wirklichkeit, Sünde, Gosse, Schmutz — und wie soll ichs sagen — na, mit einem Wort: so etwas Ungewaschenes. Die Mutter erzählt dir, o laßt mich zuhören, daß ich meine Seele wieder einmal bade in dem schönen Rauschgold des Märchens, laßt mich vergessen, daß ich nun ein Mann bin — ja — ich habe diese Feenmärchen schon ganz vergessen, laßt mich hören, wovon sie erzählen Gerade erzählt dir die Mutter von „Schneewittchen" — die Königin sitzt vor dem Spiegel und ist sehr böse auf Schneewittchen, weil sie schöner ist als sie — na, na, eine häßliche, eitle Person diese Königin — sie wird so in den Vierzigern sein, im „gefährlichen Alter", da pflegen sie eifersüchtig zu werden. Ein heikles Thema. Laßt mich mal hören — Was?! Sie vergiftet Schneewittchen?! Aber das ist schon — das ist ja Giftmord! — Aus weiblicher Eifersucht — das ist ja ein Detektiv*Roman — Hör mal, liebe Frau, erzähl dem Kind etwas anderes. Ich könnte auch nicht einschlafen, wenn ich das ernst nähme! Aschenbrödel —, ja, das schon eher, das ist eine hübsche Sache, wenn ich mich recht erinnere — Laß mal hören! Aha, sie kommt doch auf den Ball — aber jetzt flieht sie nach Hause — der Prinz findet nur ihre Schuhe und erklärt, nur die werde er heimführen, der diese winzigen Schuhe gehörten — die Stiefschwestern schneiden ihre Zehen ab, damit die Schuhe passen —, also bitte, nun hör mal auf damit, das ist ja haarsträubend! Weißt du, was du diesem armen, unschuldigen Kinde eingibst?! Sich nach dem Schuh in eine Frau verlieben!!! Weißt du, was das ist? Das ist ja die allerperverseste Liebesentartung — Fetischismus — weshalb liest du ihm nicht gleich KrafFtiEbing vor oder Iwan Bloch? Fetischismus, verstärkt durch Selbstverstümmelung — die allergrausamsten Delikte — Du richtest ja das Kind zugrunde. Fang schnell etwas Anderes an. Hansel und Gretel. Natürlich doch, so etwas muß man erzählen, von lieben, 467