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Der Unfug des Films Von Al Z. Gill I m Jahre 1829 bescherten Niepce und Daguerre der Menschheit die Fotografie. Das war Erfindung, Neuland, Offenbarung, hier wurde nicht schlechthin der Abklatsch der Wirklichkeit geboten, nein, der Mensch wurde in dem Zustand gezeigt, den er ewig heiß ersehnt, aber im Leben sozusagen erst als Leichnam erreicht: im Zustande des absoluten, des idealen Stillstandes. Jede Pose des Fotografierten bedeutete seine Apotheose. Die Fotografie — das war die Ver klärung des Menschen. Leider unterließen es die Staaten, das Wunder dieser Erfindung vor dem menschlichen Entwicklungsdrange zu schützen. Darum konnten Messter und Lumiere den Mut auf bringen, die Tatsache, daß unser Auge sich täuschen läßt, in skrupellosester Weise auszunutzen. Bald zeigten sie — in dunklen Kellern, wie es sich gebührte — der Welt ihre ersten kleinen „Naturaufnahmen. Wie sahen die aus? Arbeiter verließen nach Betriebsschluß die Fabrik. (Ja, zum Teufel, hätten sie vielleicht unbezahlte Überstunden machen sollen? Und was hatte das mit „Natur“ zu tun?) Weiter: Sturm schüttelte die Zweige eines Baumes. (Hat man schon je einen Baum gesehen, dessen Zweige im Sturm unbewegt blieben?) Ein Eisenbahnzug fuhr vorbei. (Ja, hätte er etwa, weil man gerade die Kinemato graphie erfunden hatte, fahrplanwidrig stoppen sollen?) Bald beschied man sich nicht mehr, die jahrtausendalte Phrase: Das Leben besteht in der Bewegung! immer wieder meterweise aufzuwärmen, nein, man unterfing sich, den kleinen Filmen etwas, was man „einen Sinn“ nannte, unter zuschieben. Die frechste Verfälschung der Wirklichkeit, die niemals einen Sinn hatte, löste so den gedankenlosen Abklatsch der Realität durch das sogenannte lebende Bild ab. Als nun die Filme länger und länger wurden, entdeckte man gar die Not wendigkeit einer „durchgehenden Handlung“. Es genügte nicht mehr, die affektierten Bewegungen eines neunzehnjährigen Fratzen mit Ansichtskarten lärvchen vorzuführen, sogar ein Schicksal mußte sich um den zierlichen Leib herumringeln. Kurz, der Stummfilm begann sich bereits so zu benehmen, als hätte er Sprache und Ton, die in kindischer Weise zu surrogieren dem „Zwischen titel“ und dem beliebten Musikstück „Dichter und Bauer“ zufiel. Von dem Augenblicke an, als es den ersten „Titelmacher“ gab, gab es aller dings auch — das ist anzuerkennen — eine neue Sprache: Titel-Welsch. Mit dem ersten Filmtitel wurde dieser Museumszweig des deutschen Sprachstammes geboren. Das sah so aus: „In namenlosem Sehnen flössen Gisas Stunden dahin...“ Der Amortisation des Zelluloids wegen mußten nun alljährlich in der ganzen Welt viele Millionen Meter Filmschicksal gedreht werden. Der Stoff-Konsum des belichteten Bands nahm phantastische Dimensionen an. So blieb den Pro duzenten nichts anderes übrig, als an die Verfilmung der gesamten Literatur zu schreiten, von deren Lektüre die Leser aller Völker sich fortan abwandten, da 3 463