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Der ausgerottete Autor Kritik der Theaterkrise Tibor Gergeiy j V c einzige Industrie, die unausgesetzt -Lzdie Öffentlichkeit mit Klagen übet schlechten Geschäftsgang belästigen darf, ist die Theaterindustrie. Wie sehr würde man es zum Beispiel der Schuhbranche verübeln, wenn auch sie täglich ihre Sorgen spaltenlang schildern wollte, besonders falls sich dabei herausstellt, daß sie seit Jahren nur Schuhgröße 46 fabriziert — womit bekanntlich den wenigsten Leuten gedient ist. Die Theater fabrizieren unentwegt ihre nicht passenden Stiefel, und genießen das große Glück, diesen Fehler auf das Mitleiderregendste als Folge der Weltwirtschaftskrise ausgeben zu können. Weltwirtschaftskrise! Jeder senkt dankbar betroffen das Haupt, sobald dieses Zauberwort ertönt! Wenn heutzutage einer faul ist, oder unbegabt ist, und infolgedessen sein letztes Hemd versetzen muß: — Weltwirtschaftskrise, die anscheinend nur deshalb etabliert wurde, um endlich allen Gebrechen der Menschheit volle Gültigkeit und Berech tigung zu verleihen. — Den Theatern geht es schlecht—denn ihnen ist inzwischen ihre schönste und stolzeste Hoffnung zusammengebrochen, jene Hoffnung, einen geistigen Beruf, den das Theater betrüblicherweise darstellt, auf die Dauer ohne Geist ausüben zu können. Geist wird jedem Theater zunächst und zuvörderst durch den Autor zugeführt, aber der Autor ist abgebaut worden. In allen Ländern der theaterspielenden Welt hat ihn das letzte Jahrzehnt der Direktionsführung mit Erfolg ausrotten können. Die Produktionskrise ist international. Schuld an dem Abschnüren der Produktion ist die Notwendigkeit gewesen, einen Theaterabend ausschließlich auf hervorragende Schauspieler zu stellen, eine Notwendigkeit, die indessen nur in den ersten Jahren nach dem Krieg ihre Be rechtigung hatte. Es ist sehr lehrreich, nachzuforschen, auf welche Ursachen das Startheater in Deutschland zurückgeht: auf die Inflation, auf jene Umschichtung des Publikums, die hauptsächlich denjenigen die Existenzmittel beließ, die noch nicht unter geistigen Interessen gelitten hatten — kurz also auf die Zeit, als der Theaterdirektor seinen Betrieb auf die Analphabeten einstellen mußte. In be merkenswerter Pietät hat er aus dieser Notlage sein neues Evangelium gemacht. Unter dem Motto: ,,Je blöder das Stück, desto besser die Rollen“ bildete sich im letzten Jahrzehnt eine hervorragende Garde prominenter Schauspieler in Berlin heran. Es gelang eine beispiellose Kultivierung der schauspielerischen Persönlichkeit, aber heute, wo diese Kultivierung beendet erscheint, weiß keiner der großen Schauspieler mehr, wo er mit seiner Note hin soll. Sein Fond an Individualität ist aufgebraucht, weil er — man wünschte ja seine Lieblinge möglichst vorteilhaft zu sehen! —, weil er immer in denselben Aufgaben be schäftigt wurde, und sie nun so oft gelöst hat, daß der Zauber der größten schau spielerischen Persönlichkeit nicht mehr ausreicht, einen Theaterabend zu füllen! Inzwischen ist dadurch, daß in den meisten Fällen Stücke für Schauspieler