Volltext Seite (XML)
Anatole France, das Kino und die Amerikaner Von Ni clas S egur I ch entsinne mich eines seltsamen und sehr lehrreichen Gesprächs, das ich mit Anatole France hatte. Ich wollte, ich könnte seine Klarheit und seine verblüf fende Lebendigkeit ganz wiedergeben. Es war während eines meiner letzten Besuche in „La Bechellerie“. Wir waren im Auto nach Tours gefahren, hatten den Wagen, wie wir dies immer taten, vor einem Geschäft stehen lassen und schlenderten nun durch die Stadt, erst zum Buchhändler, dann zu Potin, wo wir Cakes kauften und France geradezu verklärt die Wangen und Arme einer jungen Verkäuferin bewunderte, die, wie er sagte, „Linie und Farbe vereinigte, was selten vorkommt“. Als wir dann über den Hauptplatz gingen, zeigte mir France ein Kino-Plakat: „Gehen Sie ins Kino?“ Ich gestand ihm, daß ich es selten oder, besser gesagt, gar nie besuche. „Ich bin oft genug dort gewesen, E. zuhebe. Das Kino interessiert mich, aber nicht so sehr wie der Phonograph, der uns früher einmal sehr beschäftigt hat, Frau v. C. und mich. Ich finde den Phonographen ganz besonders interessant. Man entnimmt ihm die Intentionen dessen, der spricht, und kann Beobachtungen über Ausdruck und Sprache machen. Wenn Sie einen Schauspieler beurteilen wollen, dann lassen Sie ihn in einen Phonographen sprechen und hören Sie sich die Platte dann an. Sofort wird alles, was in dem Organ dieses Schmieristen an Dummheit, Mangel an Psychologie und Roheit der Stimme beisammen ist, gigantisch hervortreten. Hingegen das Kino?“ Er unterbrach sich und beugte sich dicht zu mir, bevor er weiter sprach . . . eine Gewohnheit, die er seit dem Kriege angenommen hatte, immer wenn er eine Wahrheit verkünden wollte; als hätte er Angst gehabt, belauscht zu werden. „Die ungeheure Verbreitung des Kinos ist einer der vier Reiter der Apo kalypse.“ „Kündigt er das Ende der Welt an?“, fragte ich ihn. „Aber nein“, antwortete France und machte ein Gesicht, das teils ein Lächeln ausdrückte, teils seine Unzufriedenheit, nicht verstanden zu werden. „Die Welt wird nur durch den Zusammenstoß von Planeten enden oder durch das Ver löschen der Sonne. Symptom eines derartigen Ereignisses ist das Kino nicht. Es handelt sich nicht um das Ende der Welt, sondern um das Ende der Zivili sation oder, wenn Sie wollen, um das Ende einer Form europäischer Kultur. Die Verbreitung des Kinos stimmt nicht nur zufällig zeitlich mit der Abschaffung des Griechischen und Lateinischen in unsern Schulen überein. Aber ich möchte nicht, daß Sie mich für einen ,Misoneisten‘ halten, wie Lombroso sich so schreck lich ausdrückt. Nein, ich verfolge meine Zeit mit größter Aufmerksamkeit, ich passe mich ihr sogar an, so gut ich kann. Das Kino hat mich unterhalten, und ich habe mich sehr dafür interessiert. Ja, ja, das Kino ist sehr amüsant und vielleicht sogar sehr lehrreich.“ 382