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Zahlen haben einen mathematischen, gedachten Zusammenhang aufgebaut: Maschinen für den groben Nutzen der gröbsten Bedürfnisse; und dennoch herrlichste Niederschrift des Hirns. Mechanisierung. Gleich Psychisierung. Neues, schönes Leben. Apparate. Doch der Apparat schafft um, stellt um zu neuem Ortssinn. So entdeckt er die letzten Quellen der Sinne, wie einst Livingstone und seine Nachfolger die Quellen des Nils bezeichneten. Unsere Entdeckung aber geschieht namenlos. Kein Eigenname kann mit ihr verbunden werden. Welch eine Lehre! Was kümmern uns die Promi nenten, die Stars! Einhundert Welten, eintausend Bewegungen, eintausend mal tausend Dramen treten alle zugleich in das Gesichtsfeld des neuen Auges ein, mit welchem der Film den Menschen begabt hat. Und dieses Auge ist wunderbarer, bei aller Freiheit, als das Fazettenauge der Mücke. Dieses Auge wälzt das Hirn um. Umsturz und Auszug der Bilder. Die aristoteli schen Einheiten weichen. Wir lernen wieder. Wir trinken in Zügen. Rausch. Und das Wirkliche wird uns sinnlos. Ohne Sinngebung. Alles ist Rhythmus, alles Sprache und Leben. Die Beweise fallen weg. Wir sind eins mit den Dingen, wir sind in Kommunion. Man richte das Wunderglas auf die menschliche Hand, man stelle es auf den Mundwinkel ein, auf das Ohr: Das Drama erhält ein neues Profil, es wächst in seinem Raum eines geheimnisvollen Lichtes. Schon ist das Wort Überdruß geworden — noch ein weniges, und auch der Mensch ist überflüssig. Hier unter der Zeitlupe ereignet sich das Königsdrama der Pflanze, shakespearisch; und die ganzen Klassiker liegen beschlossen in dem einen verlangsamten Spiel eines Armmuskels. Ein noch so leiser Ruck auf der Leinwand bringt Körperpein oder Musik; die Insekten, die Mikroben, sehen hier ganz wie unsere berühmten Zeitgenossen aus. Ewigkeit des Augenblicks. Gigantentum. Mit der ästhetischen Wertung erschöpft man es nicht, schon eher mit der Nutzung. Denn das Bühnengeschäft mit Hand lung und allen den Drahtfäden wurde entbehrlich. Es richtet sich das Augen merk ganz allein auf den drohenden Strich zwischen den Brauen. Auf die verräterischen Schwielen einer verbrecherischen Hand. Auf einen Lappen, der rot immer fortblutet. Auf die Uhrkette, straff oder geschlängelt, gleich einer Schläfenader. Nun stehen Tausende von Tausenden Herzen alle mit einander still in dem gleichen Augenblick, in allen Städten; auch noch in den verlorensten der Dörfer zerreißt das Lachen die Felderstille. Daguerre, ein Franzose, hat das Lichtbild erfunden. Nach fünfzig weiteren Jahren wird der Kino geboren. Erneuerung! Erneuerung! Immer wieder Umwälzung! — Letzte Ergebnisse der exakten Wissenschaft, der Weltkrieg, die Relativitätslehre, die politischen Zuckungen: das alles weist hin auf eine nahe neue Weltschöpfung des Geistes, auf eine nahe neue Menschlichkeit und Menschheit. Ihre Sprache wird der Film sein.