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Kurze Dramaturgie des Tonfilms Von Walther Schneider er Tonfilm ist eine Theatervorstellung, der man von der Kulisse aus zu schaut. Man sieht nicht das ganze Schauspiel, nur Teile. Diesen Resten einer Szene, eines großen Auftritts, eines belanglosen Abgangs wohnen wir — sozu sagen — persönlich bei. Der Tonfilm ist eine Theatervorstellung ohne Publikum — du glaubst als Zuschauer, der einzige Zeuge zu sein —, der Tonfilm ist ein dramatischer Vorgang entre nous, eine Schauspielkunst en deux. Der Tonfilm ist eine vollendete halbe Kunst. Er verhält sich zur Theatervorstellung wie ein vertrauliches Gespräch zu einer Parlamentsdebatte. Vergrößerung des Details heißt das Gravitationsgesetz des Tonfilms. Wir sehen im Tonfilm — möchte man sagen — eine menschliche Leidenschaft unter der Zeitlupe. Die ältesten, abgebrauchten Themen sind hier wieder ergiebig. Der Dichter des Tonfilms ist der Regisseur, der Filmautor ist nur Arrangeur der Handlung, Regisseur. Also vertauschte Rollen. Das Geheimnis des stummen Films heißt: aus einer Begebenheit die halbwegs überflüssigen Bilder herauszuschneiden. Das des Tonfilms: noch mehr schneiden. Der Höhepunkt an Ausdruck im stummen Film ist das unbewegte Bild. Im Ton film das stumme Bild. Das Lied (Chanson) ist die Großaufnahme der Tonfilmmusik. Eine Melodie, höchstens zwei Themagruppen (ein Augenblick, mit höchstens zwei Gefühls themen), von leicht faßlicher, einfacher Form, in sich abgeschlossen. Das technische Wunder des Tonfilms ist die Übertragung der Stimme durch Metall — ein neuer unverbrauchter Nervenreiz. Wie das Kleid Körperformen betont, hervorhebt, so verstärkt der metallische Klang die Eigenart, den Charakter der Stimme. Sex appeal durch den Lautsprecher. (Wir hören das Gras wachsen.) Der stumme Film ist die vierte Wand des Theaters, projiziert auf eine zwei dimensionale Ebene (auf die Leinwand). Die Schallwellen des To nfilme geben dem Filmbild — wörtlich gemeint — die dritte Dimension wieder. Was beim stummen Film Vergrößerung ist, das ist beim Tonfilm Nähe, Un mittelbarkeit, Gegenwart. Plastisch ist auch das Stereoskopbild, und perspek tivisch war schon der stumme F ilm . Ist also der Tonfilm Annäherung an die Realität? Ersatz der Wirklichkeit, die es sowieso gibt? — Nein. Dieselben Dinge, die wir im Tonfilm sehen und hören, sind in natura langweilig. Wie die privaten Erlebnisse, aus denen die Dichter ihre spannenden Romane schöpfen. Der Blick, der bis in die tiefsten Schluchten unserer Brust dringen soll, muß seinen Augenaufschlag mindestens in Hollywood haben. Und das zärtliche Wort, das uns widerstandslos betört, muß im australischen Urwald geflüstert werden. (Wirklichkeit und Gegenwart sind höchst überschätzte Angelegenheiten.) Also: möglichste Nähe bei größter Entfernung, Erfüllung und Sehnsucht zugleich — das sind Sinn und tiefere Bedeutung des Tonfilms. 4 45